Pater Anselm, Sie sind Bestseller-Autor mit bislang über 15 Millionen verkauften Büchern und beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Frage, was ein zufriedenes Leben ausmacht. Mit wie viel Zuversicht gehen Sie angesichts der zunehmenden Polarisierung ins neue Jahr?
Zunächst gehe ich durchaus mit der Hoffnung in das neue Jahr, dass wir die Pandemie zurückdämmen können, die Leute vernünftig werden und sich impfen lassen und dass wir auch achtsamer mit uns und der Natur umgehen. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass der Klimawandel genauso gefährlich wie diese Pandemie ist. Die gespaltene Gesellschaft ist aber ein großes Problem. Wir verteidigen unsere Meinung so vehement, dass wir gar nicht bereit sind, auf andere Argumente zu hören und das ist gefährlich für die Zukunft der Gesellschaft. Spaltet sie sich so, dass sie sich gegenseitig blockiert? Ich denke, es geht um eine Solidarität füreinander und da müsste man manche persönlichen Vorlieben aufgeben und bereit sein, Argumente zu hören.
Das Motto lautet derzeit aber eher, dass sich jeder seine Wahrheit sucht, sie aber nur dort finden will, wo es ihm beliebt.
Ja, dieses absolut hinter seiner Meinung stehend ist gefährlich und angstmachend für die Zukunft. Ich hoffe aber doch, dass die Menschen bereit sind, nachzudenken. Manche sind verhärtet worden und bleiben hinter ihrer Meinung stehen. Ich erlebe auch Familien, die gespalten sind und über das Thema Impfen nicht mehr reden können. Ich bin natürlich für die Impfung, aber ich versuche auch zu verstehen, was hinter der anderen Meinung an Ängsten, an Problemen, an alten Verletzungen steckt. Auch wir, die meinen, im Recht zu sein, müssen da hinhören. Gut aufeinander zu hören, wäre notwendig.
Es scheint, dass wir eher immer schlechter aufeinander hören. Ein ehemaliger Google-Entwickler meint, die Welt steuere auf ein digitales Mittelalter zu, in dem jeder in seiner Blase mit einer kochenden Gerüchteküche und Verschwörungsthesen lebt.
Das Internet bietet die Gelegenheit, seinen ganzen inneren Mist einfach loszuwerden, ohne ihn zu hinterfragen, ohne ihn zu filtern. Das schafft eine Atmosphäre von Hass und Aggressivität. Die Mönche sagen, wir sind nicht verantwortlich für die Emotion, die wir haben, sondern wie wir damit umgehen. Es ist eine emotionale Umweltverschmutzung, wenn ich Emotionen ungefiltert rauslasse. Sie ist genauso schädlich wie die Umweltverschmutzung.
Glauben Sie, dass wir gerade eine Ära des Wandels oder bereits den Wandel einer Ära erleben?
Beides. Wir spüren ja, dass Spaltung nicht zum Leben führt. Die Welt wandelt sich immer. In den letzten 50 Jahren hatten wir das Gefühl, wir können die Welt beherrschen. Jetzt spüren wir ein Stück unserer Ohnmacht und unserer Grenzen und den Wandel in der Ära. Diese Prometheus-Sage, der typische Macher, der alle Macht hat, hat ausgedient. Es ist der Mensch gefragt, der sensibel auf die Welt reagiert und sich seiner Grenzen bewusst wird.
Sie sind mit 19 Jahren in den Orden der Benediktiner eingetreten. Was war der Grund, dass Sie auch Betriebswirtschaft studierten?
Der Abt wollte, dass ich die wirtschaftliche Leitung des Klosters übernehme. Das war nicht mein Ziel, aber ich habe gemerkt, dass Wirtschaften und dafür zu sorgen, dass unsere 300 Angestellten gut miteinander arbeiten, eine Art von weltlicher Seelsorge sein kann.
Wie oft maßregelt der Mönch den Manager?
Ich habe in mir keinen Zwiespalt gesehen. Ich kann nur Betriebswirt sein, wenn ich mich nicht von Zahlen tyrannisieren lasse, sondern auf Menschen schaue, wenn ich Menschen entwickeln kann. Da habe ich dann das Vertrauen, dass irgendwann auch die Zahlen stimmen.
Und wenn die Leistung nicht stimmt?
Kein Mitarbeiter ist aus Lust schwierig, sondern immer aus einer inneren Not heraus und wenn ich die Not anspreche, kann ich vielleicht die Leistung ändern. Bei Leistungsverweigerung oder Überforderung musste ich aber auch manchmal andere Konsequenzen ziehen.
Wie gehen Sie selbst mit Ihren Schwächen um?
Ich war am Anfang stark von meinem Willen geprägt und wollte viel durchsetzen. Dann kam ich mit meinen Gefühlen in Berührung. Das hat mich verunsichert, aber geholfen, mich genauer und ehrlicher anzuschauen und mir zu erlauben, nicht perfekt sein zu müssen.
Sie empfehlen in unserem heurigen Neujahrsbuch „Der Zauber der Zufriedenheit“ einen Aussöhnungsprozess mit den eigenen Schwächen. Auf welche Weise?
Demut ist kein moderner Begriff, aber Demut heißt, den Mut haben hinabzusteigen in die eigene Menschlichkeit, in das Chaos der Gefühle und es zuzulassen. Dann habe ich auch keine Angst mehr vor mir selber. Schwächen anzunehmen, heißt aber nicht zu resignieren, sondern zu sagen: Was möchte ich verwandeln?
Wir sollten uns verändern, um nicht – wie Kierkegaard schrieb – irgendwann zu sagen, wehmütig blickt der, der ich bin, auf den, der ich hätte sein können?
Ich soll mich nicht verändern, sondern verwandeln. Im Verändern ist etwas Aggressives. Ich muss nicht ein anderer Mensch werden, sondern ich muss immer mehr ich selber werden, weil ich noch nicht der bin, der ich eigentlich sein könnte.
Sie sagten, nie die Absicht gehabt zu haben, Karriere zu machen. Als Berater und mit über 15 Millionen verkauften Büchern haben Sie eine kaum zu überbietende Karriere gemacht.
Ich habe nie einen Erfolg geplant. Ich bin dankbar dafür, aber es war nicht mein Ziel.
Was sagen Sie Karrieristen, die nach dem Motto leben „Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, hat gewonnen“?
Dass sie sich selbst unter Druck setzen und nie zufrieden sind. Aber ich vertraue darauf, dass auch viele von den Oberflächlichen eine Sehnsucht nach etwas anderem verspüren.
Sie schreiben, ein Feind der Zufriedenheit sei auch, sich mit anderen zu vergleichen. Kann der Vergleich nicht auch Motor sein, um sich weiterzuentwickeln?
Natürlich kann das ein Impuls sein, aber meistens führt es zu Unzufriedenheit. Paul Watzlawick sagt, der schnellste Weg zum Unglück ist, sich immer mit den falschen Leuten zu vergleichen. Sich annehmen, aber die Lust haben zu wachsen, sich zu fragen, was ist von meiner Veranlagung her das Ziel meines Lebens, welche Spur möchte ich eingraben, darum geht es. Diesen Ehrgeiz zu haben, ist etwas anderes, als sich zu vergleichen. Das ist wichtiger als zu sagen, wer hat das teurere Auto.
Im Sport führt es weiter.
Aber auch im Sport ist es wichtig, die Grenzen meines Potenzials zu akzeptieren. Sonst kann das zum Beispiel zum Doping führen.
Sie sagen, wir müssen nicht immer perfekt und erfolgreich sein. Bei Umfragen unter Studenten sprechen sich immer mehr für eine 30-Stunden-Woche und eine austarierte Work-Life-Balance aus. Erfolg, Leistung dürften nicht mehr die große Priorität haben.
Die Kunst besteht aber darin, die 30 oder 40 Stunden zum Leben zu machen. Wenn ich nur auf das gute Leben nach der Arbeit schaue, vergeude ich ja die 30 Stunden, die ich arbeite. Die sind dann ungelebtes Leben. Die Lust an der Leistung gehört zum Menschen und gibt auch Energie.
Verraten Sie uns noch, mit wie viel Optimismus Sie ins Jahr 2022 blicken?
Ich spreche lieber von Hoffnung. Optimismus bedeutet manchmal, dass wir uns etwas vormachen. Bei der Hoffnung hoffe ich auf das, was ich noch nicht sehe. Hoffnung gibt Kraft, Leben, Lebendigkeit und diese Hoffnung kann auch unser Miteinander wandeln.
Der Zauber der Zufriedenheit. Anselm Grün, 128 Seiten. 14,90 Euro. Exklusiv in Büros der Kleinen Zeitung und auf shop.kleinezeitung.at