Dass der Abzug der USA aus Afghanistan für ein Machtvakuum sorgen würde, war klar. Doch das Tempo, mit dem derzeit die radikal-islamischen Taliban eine Stadt nach der anderen überrennen, hat doch viele überrascht. In den nächsten Wochen könnte, so fürchten viele, sogar die Hauptstadt Kabul fallen – oder die Regierung am Schluss vielleicht sogar kampflos aufgeben. „Das würde bedeuten, dass wieder ausschließlich bewaffnete Gruppen an die Macht kommen“, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.
Die Taliban seien über die Jahre immer unterschätzt worden. „Die meisten Menschen assoziieren damit eine hinterwäldlerische Truppe bärtiger Islamisten. Das mag teilweise stimmen. Aber sie sind auch hochgerüstet, werden von Pakistan gut beraten und haben es geschafft, sich als Alternative in vielen Gebieten anzubieten – wenn auch mit Gewalt“, sagt Ruttig, Co-Direktor der Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network.
Das Wort „Taliban“ bedeutet „Schüler, Suchender“: Die paschtunisch-afghanische Bewegung ist in den 1990er-Jahren in religiösen Seminaren in Pakistan entstanden. In ihre puritanische Auffassung des Islam mischen sich konservative Stammestraditionen. Weil die Taliban dem damaligen Al-Kaida-Terrorchef Osama bin Laden Unterschlupf boten, griffen die USA nach den Anschlägen am 11. September 2001 das „Islamische Emirat“ der Taliban an und stürzten sie. Jetzt, nach dem Abzug, sehen sie ihre Stunde wieder gekommen.
Die Zentralregierung in Kabul sieht sich von den Taliban bedroht und wirft den USA vor, zu rasch abgezogen zu sein. Aus Washington hieß es zu solcher Kritik gestern lapidar, dass jetzt die afghanische Führung selbst für ihr Land verantwortlich sei. Haben die USA Afghanistan im Stich gelassen? Afghanistan-Experte Ruttig sieht die Lage differenziert: „Biden hat schon seit Jahren klargemacht, dass er den Afghanistan-Einsatz ablehnt, weil er zu teuer war und man wenig erreichte. Aber man hätte den Abzug auf alle Fälle besser planen können.“ In den Gesprächen der USA mit den Taliban sei ursprünglich vereinbart worden, dass es einen Abzug erst dann gibt, wenn die verschiedenen Gruppen in Afghanistan Fortschritte bei der Suche nach einer Beendigung des Krieges machen. „Und das ist ja eindeutig nicht der Fall.“
Dass die Streitkräfte der afghanischen Regierung von den Taliban so leicht überrannt werden, überrascht den Experten wenig: „Der Aufbau der afghanischen Truppen hat einfach nicht funktioniert. Armee, Polizei und der Geheimdienst sind hochgerüstet, haben 300.000 Mann, und trotzdem laufen ihre Kämpfer einfach weg, wenn die Taliban kommen. Das bedeutet, dass die Moral niedrig ist.“
Unklare Loyalitäten
Dazu beigetragen habe der zu rasche Abzug der Nato-Truppen, aber auch die afghanische Regierung selbst und die Korruption im Land: „Viele sind einfach nur deshalb als Soldaten bei der afghanischen Armee, um Geld zu verdienen und durchzukommen, und hoffen, sie kommen am Kämpfen vorbei. Einige sind eigentlich den Warlords in den Regionen loyal und nicht der Regierung, die viele Probleme bis heute nicht einmal ansatzweise hat lösen können.“
Finanzieren können die Taliban ihren Vormarsch aus dem Drogenhandel – aber nicht nur: „Die Taliban betrachten sich als legitime Regierung und besteuern alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Gebieten, die sie kontrollieren. Dazu kommen Spenden von Privatpersonen und vielleicht auch Regierungen in der islamischen Welt“, sagt Ruttig.
Die Afghanen haben während der Präsenz westlicher Truppen und Hilfsorganisationen gesehen, dass sie sich mehr demokratische Mitsprache und Bildung für ihre Kinder wünschen, doch nun geht es für sie erneut ums nackte Überleben. „Nach 40 Jahren Krieg wünschen sich viele einfach nur, dass jemand wieder Ruhe herstellt – selbst wenn es die Taliban sind. Dem männlichen Teil der Bevölkerung sind Frauenrechte dann nicht so wichtig.“