Die Öffnung ist in Sichtweite, aber noch nicht für den 1. Mai. Jener Tag, der der Politik traditionell als Bühne in der Öffentlichkeit dient, wird daher auch heuer fast nur digital abgefeiert werden. Im roten Wien war das schon im Vorjahr der Fall, trotz bevorstehender Wahl.
Noch ist die Stadt im harten Lockdown, erst ab 2. Mai soll es wieder lockerer werden. Schon allein deswegen wäre es nicht opportun gewesen, für den Tag zuvor zum Aufmarsch zu blasen. Und auch deshalb nicht, weil man schwerlich gleichzeitig Anti-Corona-Demonstrationen verteufeln und dann selber zum Massenauflauf rufen kann.
Ausgeschert ist bisher nur die KPÖ. Sie marschiert, zumindest in Graz. "Es gelten natürlich FFP-2-Masken-Pflicht und zwei Meter Abstand", sagt die steirische KPÖ-Chefin Claudia Klimt-Weithaler. Die Rechtfertigung: "So notwendig wie heuer war es schon lange nicht, am 1. Mai auf die Straße zu gehen", schließlich hätten Hunderttausende im vergangenen Jahr ihren Job verloren oder Einkommensverluste erlitten.
Das traditionelle Maifest der KPÖ findet auch in Graz nicht statt, es fiel wie das Maifest der Sozialdemokraten im Wiener Prater der Corona-Pandemie zum Opfer.
Die Verunsicherung der Politik
Ein Jahr Pandemie bedeutet ein Jahr Abstand der Politik vom Volk. Was macht das mit den Parteien, was mit den Politikerinnen und Politikern? "Natürlich sind Politiker, wie wir alle, noch mehr abgekapselt als vorher. Das macht alle noch unsicherer, in einer ohnehin von vielen Unsicherheiten geprägten Zeit", sagt Politikbeobachter Thomas Hofer.
Das habe auch die Fixiertheit der österreichischen Innenpolitik auf Umfragen noch einmal verstärkt, die schon zuvor sehr ausgeprägt gewesen sei. "Man weiß noch weniger als sonst, was man tun darf, ohne jemanden zu vergrämen."
Das sei so lange kein Problem gewesen, wie die Zahlen in Bezug auf Neuinfektionen und Krankenhausbelegung und die Einstellung einer Mehrheit der Österreicher zur Notwendigkeit von Lockdown-Maßnahmen übereingestimmt hätten. "Das Problem ist, dass das jetzt gekippt ist. Die Leute sagen: Wir wollen nicht mehr, wir können nicht mehr, wir wollen die Öffnung, unabhängig von den Zahlen." Die Politik muss sich an den Zahlen orientieren, im Wissen darum, damit nicht bei den Menschen zu sein.
Digitaler Bypass zu den Menschen
Was hat sich in diesem Jahr mit der Corona-Pandemie verändert in der politischen Kommunikation? Es gibt keine Termine mehr, keine Nähe zueinander – der 1. Mai ist Sinnbild dafür. Persönliche Kontakte wurden ersetzt durch Online-Kommunikation. Hofer: "Es wird ein Bypass gelegt zu den Leuten, ein Versuch, den Eindruck von Nähe zu vermitteln, selbst wenn es diese Nähe nicht gibt."
Die Facebook-Videos von Kanzler Sebastian Kurz seien ein Beispiel, alle Parteien bespielten aktiv ihre Social-Media-Kanäle. Einige seien besser vorbereitet gewesen, wie die ÖVP, "die schon 2013 die Idee der intelligenten Datenbank zur emotionalen Steuerung der Fans aus den USA importiert hat", andere weniger gut. Landespolitiker, für die Termine "bei den Menschen draußen" zu Nicht-Corona-Zeiten das politische Lebenselixier sind, täten sich erheblich schwerer als ihre Kolleginnen und Kollegen in Wien.
Die Rolle der Emotionen
Dazu kommt die Rolle der Emotionen. Sie sind mit daran schuld, dass die politische Corona-Kommunikation vielfach als "defizitär" empfunden wurde: "Die Kommunikation hat nicht der Wucht des Themas entsprochen, das so viele Menschen so existenziell betrifft. Die Politik hat dasselbe Werkzeug ausgepackt wie bei normalen politischen Themen, mit Aussendung, Gegenaussendung, gegenseitigen Beschimpfungen, mit denen man politisches Kleingeld gemacht hat. Das wurde als inakzeptabel empfunden, es hat bei der Bevölkerung den Eindruck erweckt, dass die Politiker den Ernst der Lage nicht erkannt haben."
Erst langsam fasse die Politik wieder Fuß. Die Verbreiterung zu Beginn des Jahres, die Einbeziehung wichtiger regionaler Spieler wie Michael Ludwig (Wien) oder Hermann Schützenhöfer (Steiermark, Sprecher der LH-Konferenz), das Mitnehmen der Opposition, sofern sich diese mitnehmen ließ, etwa SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, "all das war wichtig, aber es wäre schon vorher gut gewesen". Da gehe es nicht darum, "den Eindruck einer Konzentrationsregierung zu vermitteln", sondern einfach darum, alle an Bord zu holen, wie es die kritische Situation erfordere.
Der tägliche Schlagabtausch sei etwas Gelerntes, "das hat sich in die DNA der Politiker eingebrannt". Die Themenlage hätte es allerdings erfordert, mit der geübten Praxis zu brechen.
Inhalte "fast wurscht"
Das Spiel mit den Emotionen ist andererseits untrennbar mit der Steuerung der Fans verbunden. "Ich habe schon 2019 das Phänomen der 'Emokratie' beschrieben, das hat sich durch Corona noch einmal zugespitzt": Politische Auseinandersetzung funktioniere nur noch über pure Emotion. "Ohne Emotion ließen sich Inhalte noch nie verkaufen, aber jetzt sind die Emotionen dominant, der Inhalt fast schon wurscht."
Säße die FPÖ heute noch in der Regierung, hätte sich schon viel früher Kritik an der Regierungspolitik Bahn gebrochen. Umgekehrt sind die FPÖ-Wähler zu 80 Prozent oder mehr gegen alle Maßnahmen, die von der Regierung kommen. "Das ist in Umfragen belegt." Die emotionalen Bindungen der Zielgruppe gäben den Ausschlag dafür, ob sie "dem System", also den handelnden Politikern, grundsätzlich vertrauen. Genau deshalb wäre es eben auch gut gewesen, auf billige Punkte zu verzichten, aus den gelernten Rollen herauszugehen, so Hofer.
Die Rückkehr zur Nähe
Corona schuf Distanz. Wird die Politik auf Nähe auch nach der Pandemie vermehrt verzichten, dem "Bypass" über soziale Medien etwa den Vorzug geben? "Die Parteien werden das eine verstärkt tun, das andere aber nicht lassen. Die Nähe ist in der Politik immer noch die entscheidende Währung."
Gerade dann, wenn sich die Infektionszahlen abgeflacht hätten, die Menschen aber die existenziellen Folgen der Pandemie am eigenen Leibe spürten, werde es wichtig sein, in die Bevölkerung hineinzuhören. "Da müssen die Politiker wieder mit Zuhör-Touren durch die Lande ziehen, sonst wird man ihnen vorwerfen, dass sie abgehoben agieren."
Claudia Gigler