Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs wollen bei ihrem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag aufs Tempo drücken bei der europäischen Corona-Impfkampagne in der ganzen EU. Dazu soll die Impfstoffproduktion angekurbelt und die Lieferungen von Vakzinen ausgebaut werden. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will die von ihm und anderen Ländern geforderte Neuverteilung von Corona-Impfstoffen in der EU zur Sprache bringen. Heftige Kritik zu dem Korrekturmechanismus kam aus Deutschland. Auch die verschärften Exportkontrollen wollen die EU-Staats- und Regierungschefs thematisieren. Neue Kriterien sollen es erlauben, Impfstoffe zurückzuhalten, wenn Verhältnismäßigkeit und Gegenseitigkeit nicht gewahrt sind. Das geplante "grüne" EU-Impfzertifikat steht ebenfalls auf der Agenda.
Millionen Dosen AstraZeneca versteckt
In Brüssel liefen am Mittwoch die Vorbereitungen auf den Gipfel am Donnerstag auf Hochtouren, gerade eben waren die Pressegespräche von EVP-Fraktionschef Manfred Weber und Gesundheitssprecher Peter Liese vorbei. Die Kommission hatte begonnen, die Details ihres strengeren Export-Kontrollsystems für Impfstoffe darzulegen, als die Eilmeldung kam: In einer Firma nahe Rom wurden bei einer Inspektion 29 Millionen Dosen des Impfstoffs von AstraZeneca entdeckt.
Die Geschichte dahinter liest sich wie ein Krimi, dessen letztes Kapitel noch nicht geschrieben ist. Der britisch-schwedische Hersteller ist jener, mit dem die EU im Dauerstreit liegt – unter anderem, weil die Lieferungen weit hinter den vertraglichen Zusagen liegen, während offen der Verdacht ausgesprochen wird, dass das Unternehmen Großbritannien bevorzugt. Statt der ursprünglich avisierten 120 Millionen Impfdosen sollen im ersten Quartal bestenfalls 30 Millionen in die EU kommen, im zweiten Quartal 70 Millionen statt 180 Millionen Dosen. Die ausbleibenden Lieferungen führten unter anderem zum Streit über die gerechte Aufteilung zwischen den EU-Ländern.
Der Tipp für die italienischen Behörden kam aus Brüssel, von Industriekommissar Thierry Breton. „Wir hatten den Verdacht, dass AstraZeneca über mehr Produktionskapazität in Europa verfügte, als sie angegeben hatten“, sagte ein EU-Vertreter der Nachrichtenagentur AFP. Die italienische Firma füllt den angelieferten Impfstoff in Ampullen. Es dauerte nicht lang, da äußerten Medien den Verdacht, diese Ampullen sollten, eventuell über ein Drittland, nach Großbritannien gebracht werden. Hergestellt worden wäre der Impfstoff demnach im niederländischen Werk des Subunternehmens Halix. Das ist jener Standort, den die EMA längst schon als offizielle Produktionsstätte hätte freigeben können, für den AstraZeneca aber immer noch wichtige Dokumente nicht übermittelt hat. Schon bisher hatten sich deshalb viele gefragt: Was wird dort produziert und für wen?
AstraZeneca weist alles zurück
AstraZeneca brauchte am Mittwoch einige Stunden bis zu einer Stellungnahme, in der alle Vorwürfe zurückgewiesen werden. Es sei keine Rede davon, dass die 29 Millionen Dosen für Großbritannien bestimmt gewesen seien: „16 Millionen Dosen davon sind für Europa bestimmt. Knapp 10 Millionen Dosen werden nächste Woche an die EU-Länder geliefert, der Rest nach Abschluss der entsprechenden Kontrollen im April. Die restlichen 13 Millionen Dosen sind im Rahmen der Verpflichtung von AstraZeneca für die, auch von der EU unterstützte Covax-Initiative für den Versand an Länder mit niedrigem Einkommen reserviert.“ Der Impfstoff sei auch nicht in den Niederlanden, sondern „außerhalb Europas“ hergestellt und nach Italien bloß zur Abfüllung gebracht worden. Die Angaben werden nun von den Behörden überprüft; den Weg nach Großbritannien werden die Ampullen also definitiv nicht finden.
Schärferer Kontrollmechanismus
Gerade die fragwürdigen Lieferverzögerungen hatten die Kommission dazu bewogen, den Kontrollmechanismus, der ausdrücklich nicht als „Exportbann“ bezeichnet wird, noch schärfer zu stellen. Nun sollen die Kriterien „Gegenseitigkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ herangezogen werden, um Exporte nötigenfalls zu stoppen. Der britische Premier Boris Johnson warnte zunächst vor "beträchtlichen" Schäden durch "willkürliche Blockaden". Unternehmen könnten vor Investitionen in Ländern zurückschrecken, "in denen willkürliche Blockaden verhängt werden", sagte Johnson am Mittwoch im britischen Parlament. Er glaube nicht, "dass Blockaden von Impfstoffen, Medikamenten oder Impfstoff-Wirkstoffen vernünftig" seien.
Gemeinsame Erklärung
Am Abend gab es dann aber eine gemeinsame Erklärung von EU-Kommission und Großbritannien. Dort heißt es: "Wir sind alle mit derselben Pandemie konfrontiert, und die dritte Welle macht die Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien noch wichtiger." Angesichts der "gegenseitigen Abhängigkeit" arbeite man an konkreten Schritten, "die wir kurz-, mittel- und langfristig umsetzen können, um eine Win-win-Situation zu schaffen und die Impfstoffversorgung für unsere Bürger zu erweitern". Mit Blick auf die jüngsten Streitigkeiten teilten Brüssel und London mit: "Letztlich werden Offenheit und eine weltweite Kooperation aller Staaten der Schlüssel sein, um diese Pandemie endgültig zu überwinden und sich besser auf künftige Herausforderungen einzustellen."
Am EU-Gipfel am Donnerstag, der zwei Stunden früher als geplant beginnt, wird das ein Thema sein; ebenso der von Kanzler Sebastian Kurz angestoßene „Korrekturmechanismus“ für die Länder, die bei den Lieferungen in Rückstand geraten sind. Deutschland und andere Staaten wenden sich allerdings dagegen: Den Nachzüglern will man zwar helfen, das System an sich aber nicht ändern. EU-Ratspräsident Charles Michel will offenbar einen Streit am Gipfel vermeiden und die Sache vertagen.