Womöglich ist das Emmanuel Macrons größte Baustelle, gleich hinter der Corona-Pandemie: Frankreichs Verhältnis zum Islam, die Bekämpfung des radikalen Islamismus, des Terrorismus, die langfristige Heilung alter Wunden der kolonialen Vergangenheit und die zumindest notdürftige Versorgung der jüngsten Blessuren durch den Terror. Die Abgeordneten der Nationalversammlung debattieren derzeit über das neue „Gesetz zur Verstärkung der Prinzipien der Republik“, wie das Anti-Islamismus-Gesetz inzwischen heißt. Wie strittig das Thema ist, lassen die 2647 Novellierungsanträge ahnen, die bereits auf dem Tisch liegen.
„Die List der islamistischen Fundamentalisten bestand lange Zeit darin, sich als Fürsprecher aller Muslime Frankreichs auszugeben“, sagt Frankreichs Präsident Macron im Gespräch mit einer kleinen Gruppe von Vertretern der Auslandspresse. Lange Zeit habe man jedem, der gegen Fundamentalisten vorging, unterstellt, gegen alle Muslime zu sein. „Das ist ein großer Irrtum“, so der Präsident.
Schwarzer Rollkragenpullover, blauer Anzug, schwarze Maske: Macron empfängt im Look der französischen Existenzialisten im Salon Napoleon III. des Élysée-Palastes. Am Platz des notorisch verspäteten Präsidenten steht eine imposante goldene Uhr.
Macron: "Mich geht Religion nichts an"
Macron will Schluss machen mit der allgemeinen Handlungsunfähigkeit angesichts eines Problems, das viele seiner Vorgänger als zu komplex empfunden haben. Ihm gehe es keinesfalls um einen „moderaten Islam“, wie man ihm unterstellt habe. „Woran und wie geglaubt wird, das ist mir komplett egal. Ich verlange ja auch nicht von einem Katholiken, moderat zu sein. Mich geht die Religion nichts an“, so der Präsident trocken, „aber ich verlange von jedem Bürger, ganz gleich welcher Religion, jede einzelne Regel der Republik zu respektieren, weil jeder in erster Linie Bürger ist, erst an zweiter Stelle ein Glaubender.“
Drei Mal ist der Termin im Élysée-Palast geplatzt. Einmal, weil sich der Präsident selbst mit dem Coronavirus infiziert hatte. Bei diesem Treffen ging es Macron darum, Missverständnisse zu beseitigen. Denn im November, als das Gespräch zum ersten Mal angesetzt war, lief ein Schlagabtausch zwischen dem Élysée-Palast und großen amerikanischen sowie britischen Medien. Der Präsident hatte offensichtlich das Gefühl, zum einsamen Fürsprecher eines universalistischen Menschenbilds der Aufklärung geworden zu sein, das nicht mehr viele Anhänger zu haben scheint. Dass Staatsoberhäupter der arabischen Welt regelmäßig zum Boykott französischer Produkte aufrufen, daran hatte sich Macron gewöhnt. Dass aber amerikanische Korrespondenten auf Frankreich mit ideologischen Scheuklappen blicken, das scheint ihn wütend gemacht zu machen.
Eigentümliche Täter-Opfer-Umkehr
Nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty titelte etwa die „New York Times“: „Französische Polizei schießt nach tödlicher Messerattacke auf Täter und tötet ihn“. Aus einer Terrorattacke wurde ein Akt der Polizeigewalt. Die eigentümliche Verkehrung der Perspektive kann als symptomatisch gelten für einen Konflikt zwischen zwei grundverschiedenen Gesellschaftsmodellen, dem französischen mit universalistischem Menschenbild und dem multikulturellen der USA. Angloamerikanische Medien machen die Ursachen islamistischen Terrors im Versagen der französischen Integration, in der Diskriminierung der arabischstämmigen oder muslimischen Bürgerinnen und Bürger aus. Emmanuel Macron bezichtigt sie der „Legitimierung von Gewalt“.
Ziel des neuen Gesetzes ist es, dem Staat Instrumente in die Hand zu geben, separatistische Tendenzen besser unterbinden und muslimische Parallelgesellschaften verhindern zu können. Auch geht es darum, langfristig keine aus dem Ausland entsandten Imame mehr aus zuzulassen und die Finanzierung von Moscheen transparent zu machen. Der Staat wird die Möglichkeit haben, Moscheen oder Privatschulen schließen zu können, die die Regeln der Religion über die Gesetze der Republik stellen. Macron spricht von regelrechten „Madrasa“, Islamschulen mitten in Frankreich, „wo kleine Mädchen verschleiert auf dem Boden sitzen, nur auf Arabisch unterrichtet werden, keine Menschen mit Gesichtern zeichnen und keine Musik machen dürfen“. Immer mehr Kinder seien aus der öffentlichen Schule genommen worden, um in solchen „Geheimschulen“ unterrichtet zu werden. „Dagegen werden wir sehr viel strikter vorgehen“, verspricht Macron.
Frankreichs Konservative in der Opposition finden Macrons Vorstoß zu schwach und haben ein Gegenprojekt. Marine Le Pen, Chefin des rechtspopulistischen Rassemblement National, will am liebsten den muslimischen Schleier in der Öffentlichkeit komplett verboten sehen. Die Linkspopulisten hingegen bezeichnen das Gesetz als rassistisch und fürchten, dass es nur zur weiteren Diskriminierung von Frankreichs Muslimen beitragen wird. Was auch immer Macron macht, er bewegt sich bei diesem Thema auf Glatteis.
Hoffnung auf eine innerislamische Reform
Frankreich ist in einer schwierigen Lage, aber sie ist alles andere als hoffnungslos. Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud sieht in Macrons Offensive sogar eine einmalige Chance für die Reform des Islam. „Der Protestantismus ist in Deutschland geboren, nicht im Vatikan. Und wenn die sehnlichst erwartete Reform des Islam aus Frankreich käme und nicht aus den muslimischen Ländern?“, fragt Daoud in „Le Monde“. Der algerische Intellektuelle hofft auf eine Reformationsbewegung nach dem Vorbild Luthers, die sich vom „Islam der Keller“ verabschiedet und von Frankreich ausgehend die „liberalen Muslime des Südens“ in ihren Bestrebungen unterstützen könnte.
Von einem „Islam der Aufklärung“ spricht auch Macron. Einen ersten Sieg kann er bereits verbuchen. Nach zähem Ringen haben sich die islamischen Verbände auf eine Wertecharta bei der Ausbildung von Imamen verständigt. Nicht alle haben die Charta unterschrieben. „Das hat zur Klärung beigetragen“, versichert Macron. Es habe eine Art „Kartografie“ offengelegt, eine ideologische Landkarte der Verbände, Moscheen, religiösen oder kulturellen Vereine, die sich beispielsweise weigern, die Gleichberechtigung der Geschlechter anzuerkennen.
unserem Korrespondentin Martina Meister aus Paris