1 Der Brexit, die unendliche Geschichte: Wie lange geht der Zirkus denn noch so weiter?
Großbritannien hat das Angebot der EU, die Übergangszeit um ein weiteres Jahr zu verlängern, abgelehnt. In der Nacht auf 1. Jänner 2021 wird der Ausstieg auf jeden Fall vollzogen, dann ist es vorbei.
2 Warum gibt es dann jetzt schon wieder einen Entscheidungstermin und große Aufregung?
Bis heute konnten sich London und Brüssel nicht darauf einigen, wie die künftigen Beziehungen ab 1. Jänner genau ablaufen sollen. Es geht dabei um fast alle Fragen der Wirtschaft und des täglichen Lebens – von der gegenseitigen Anerkennung von Dokumenten (wie Führerscheine) über Zölle, Fischereirechte, Datenaustausch, Bürgerrechte usw. Für einen „Deal“, wie auch immer dieser noch ausschauen könnte, ist es trotz aller Tricks inzwischen doch schon fast zu spät. Kommt es in diesen Tagen zu keinerlei Einigung, geht es sich nicht mehr aus, dass ein allfälliges Abkommen vom EU-Parlament, geschweige denn von den Parlamenten der Mitgliedsländer ratifiziert wird. In dieser Woche wird aber noch umso intensiver verhandelt.
3 Ist eigentlich klar, ob Boris Johnson überhaupt einen Deal will?
Er hat nie gesagt, dass er keinen will. Eine Übereinkunft läge, weiß auch Johnson, in jedermanns Interesse. Ohne neuen Handelsvertrag stünden beiden Seiten enorme Probleme und immense finanzielle Verluste ins Haus. Wesentlich mehr noch als die EU würde ein solcher vertragsloser Zustand – der sogenannte No Deal – das Vereinigte Königreich treffen. Falls von Jänner an nur noch nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO gehandelt würde, müssten die Briten auf 15 Jahre hin mit einem Einbruch ihrer Wirtschaftskraft um fast sechs Prozent rechnen. Zum Vergleich: Infolge der Covid-Krise erwartet man einen Einbruch von zwei Prozent.
4 Was würde passieren, wenn es zu keiner Einigung kommt?
Umfassende neue Kontrollen würden wohl erst einmal den Grenzverkehr zum Erliegen bringen. Einen Stau von 7000 Lastwagen an der südenglischen Küste hat der für die Brexit-Vorbereitungen zuständige Minister Michael Gove in Aussicht gestellt. Gewisse Nahrungsmittel und Medikamente könnten knapp werden. Viele Importe würden sich verteuern. Ganze Industriebranchen kämen in Schwierigkeiten, weil es ihnen an Nachschub fehlt.
5 Kämen dadurch auch Jobs in Gefahr?
Zahllose Arbeitsplätze wären gefährdet. Finanzmärkte, Luftfahrt und Reiseverkehr müssten auf Notfallvereinbarungen hoffen. In allen möglichen Bereichen würde die Zusammenarbeit mit der EU ins Stocken kommen. Und den Iren droht eine neue „physische Grenze“ mitten durch ihre Insel – mit allen potenziellen Gefahren für den nordirischen Frieden in einem solchen Fall.
6 Wäre ein Deal aber somit auch für Boris Johnson nicht logisch?
Kommerziell schon. Aber nicht unbedingt politisch. Denn der Slogan der Brexiteers lautete immer: We’ll take back control – wir holen uns die Kontrolle über unser Leben zurück. Uneingeschränkte Souveränität, „echte Unabhängigkeit“ von Europa, hat auch Johnson den Brexit-Wählern beim Referendum 2016 versprochen. Und ein neuer Deal mit der EU würde London Kompromisse abverlangen. Würde sich das Vereinigte Königreich zum Beispiel zu gleichen Wettbewerbsbedingungen verpflichten, wie es Brüssel fordert, müsste Johnson den Brexiteers erklären, warum nationale Souveränität nach dem Brexit schon wieder eingeschränkt werden müsste – und warum man überhaupt aus der EU ausgetreten ist. Der faire Wettbewerb („level playing field“) ist aber eine der Grundbedingungen der EU, die sich bis zuletzt klar gegen das „Rosinenpicken“ ausgesprochen hat. Würden sich die Briten nicht an solche Regeln halten, hätte das in der Zukunft schwere Folgen für die EU-Wirtschaft. Das Angebot an die Briten, so heißt es, gehe ja schließlich weit über vergleichbare Verträge (etwa mit Kanada) hinaus.
7 Wie groß ist der Druck auf Premier Johnson?
In jeder Hinsicht groß. Der Nachfolger von Theresa May hatte ja gelobt, er werde sein Land aus dem „Joch“ der EU befreien, und er versprach, Großbritannien ein für alle Mal vom Kontinent abzukoppeln. Die Anti-EU-Tories, die ihn ins Amt hoben, wollen nun sehen, ob er sein Versprechen hält. Nigel Farage mobilisiert bereits seine neue „Reform UK“-Partei, um gegen die Konservativen zu Felde zu ziehen, sobald Johnson sein Land durch Zugeständnisse an die EU „verrät“.
8 Und was sagen die EU-Befürworter?
Angesichts der kommenden Probleme ist die Stimmung im Lande nüchterner als vor ein paar Jahren. Selbst ein elementarer Deal mit der EU, durch den Zollgebühren vermieden würden, würde Grenzprobleme verursachen und jede Menge Extra-Bürokratie erfordern. Den härtesten aller harten Abgänge, einen No Deal, wollen darum nur die wenigsten auf der Insel. Jüngsten Umfragen zufolge überwiegt inzwischen sogar die Zahl der Briten, die den Brexit im Rückblick für eine Fehlentscheidung halten.
9 Halten die Abspaltungstendenzen der Schotten weiter an?
Die Schotten waren immer gegen den Brexit. Unter dem Eindruck der Londoner Politik verlangen jetzt 55 Prozent der Schotten eigene staatliche Unabhängigkeit. Johnsons just bekannt gewordene Ansicht, selbst Schottlands begrenzte Selbstverwaltung sei schon „eine Katastrophe“, verschärft den Gegensatz zwischen London und Edinburgh.
10 Auch aus den USA droht Ungemach.
Johnsons Drohung, per Gesetz das von ihm selbst unterschriebene Austrittsabkommen auszuhebeln und damit eine harte Irland-Grenze zu riskieren, wird zum Bumerang. US-Demokraten um Joe Biden (der stolz auf seine irische Abstammung ist) haben bereits erklärt, Washington würde bei einem solchen Vertragsbruch den von Johnson sehnlichst erhofften neuen britisch-amerikanischen Handelspakt gar nicht erst unterzeichnen. Bei einem Scheitern der Verhandlungen mit Brüssel stünden die Briten ohne Deal mit Europa und ohne Deal mit Amerika da.
11 Lässt sich das alles noch lösen?
Wetten will keiner mehr abschließen, aber zumindest ein Rahmenvertrag scheint noch möglich. Morgen gibt es einen EU-Gipfel – und die Union will zwar nicht einknicken, lässt aber auch bis zur letzten Sekunde nichts unversucht.