Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, um zu zeigen, dass er geeignet für die Präsidentschaft ist - Joe Biden hat ihn erbracht. In dieser Zitterpartie um den Wahlsieg hat der 77-Jährige nicht nur bewiesen, dass er Nerven bewahren kann, sondern auch, dass ihm Demokratie und Frieden im Land ein Anliegen sind. Obwohl auch er angesichts der knappen Ergebnisse in keiner leichten Lage ist, waren Bidens Auftritte während des Auszählungsprozesses von Besonnenheit geprägt. Während Donald Trump wie ein Autokrat einen Stop der Auszählung der Wählerstimmen fordert - versuchte Biden, die Nation zu beruhigen - Demokratie kann eben dauern.
Geduld ist die Fähigkeit zu warten. 77 Jahre musste Joe Biden werden, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Und gefühlte 77 Jahre dauerte es gestern, bis genügend Briefwahlstimmen ausgezählt waren, um ihn in einigen entscheidenden Bundesstaaten doch noch, allmählich und ziemlich knapp, vor Donald Trump zu schieben. Als „Sleepy Joe“, „schläfrigen Josef“ hatte ihn Trump im Wahlkampf abfällig bezeichnet. Aus dem raschen, klaren, fulminanten Erdrutschsieg des Demokraten, den die Umfragen versprochen hatten, ist nichts geworden. Ein Biden, so viel steht fest, geht die Dinge gemächlich an.
Das mit dem Warten könnte die nächsten Wochen weitergehen. Trump hatte in einem für eine westliche Demokratie bisher ungekannten Tabu-Bruch noch lange vor Auszählung aller Briefwahlstimmen seinen Sieg verkündet – und ein Ende der Auszählung verlangt. Von einem „medialen Staatsstreich-Versuch“ sprachen viele Kommentatoren. Jetzt kommt wohl noch viel Arbeit auf die Gerichte zu.
Joe Biden gilt vielen Demokraten als politischer Messias, der sie von Donald Trump befreien sollte – und so wurde er im Wahlkampf mit einigem Pathos inszeniert: „Gebt den Menschen Licht“, leitete er diese Linie mit seiner Rede auf dem Nominierungsparteitag im August ein. Er versprach einen Sieg des Lichts gegen die Dunkelheit der Lügengeschichten und der Hetze, gegen den Rassismus und die Ausgrenzung, die Donald Trump vorgeworfen werden. Er, Biden, werde für das „Herz und die Seele des Landes“ streiten, versprach er.
Allerdings: Um die „Seele Amerikas“ stritten auch die Republikaner, und ihr Messias heißt Trump. Rund 70 Prozent der Amerikaner sehen ihr Land Umfragen zufolge auf dem falschen Kurs und offenbar in Gefahr, seine Seele zu verlieren. Doch der Weg der Rettung spaltet diese Nation zutiefst – und bis in die Familien hinein.
Joe Biden hat aufgrund seines Alters auch das „alte Amerika“, dem gerade in den abgehängten Industrieregionen viele Trump-Anhänger nachtrauern, miterlebt. Das war wohl mit ein Grund dafür, dass er es überhaupt zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten schaffte – auch in den Vorwahlen hatte Biden Wochen gebraucht, um sich dort den Sieg zu sichern. Seine Partei musste fürchten, dass jeder allzu polarisierende Kandidat – wie etwa Bernie Sanders – von Trump so sehr in der Luft zerrissen würde wie 2016 schon Hillary Clinton.
Dass der mittlerweile etwas ältliche, nicht übermäßig schlagfertige Herr aus Delaware überhaupt zum Favoriten gegen die Wahlkampf-Kanone Donald Trump wurde, hat er auch seinem Gegner zu verdanken: Trump polarisiert so stark, dass er nicht nur seine eigenen Anhänger mobilisierte, sondern auch jene, die das Gegenteil des schrillen Schreiers im Weißen Haus sehen wollen.
Und da kam Bidens Unaufgeregtheit wie gerufen. Er kann Staatsmann. Das zeigte er auch in der Wahlnacht, als er nach Trumps dreistem Versuch, Zweifel an der Auszählung zu säen, um eine mögliche Niederlage als Betrug abzutun, die Wähler zur Geduld aufrief. Trump setzt auf Eskalation. Biden will das aufgewühlte Land beruhigen. Selbst Republikaner billigen Biden eine Eigenschaft zu, die Trump immer wieder schmerzlich vermissen ließ: Anstand und Herzlichkeit.
Biden war jahrzehntelang Senator, dann Vizepräsident unter Obama. Das galt damals als Höhepunkt einer Karriere, die stets Probleme hatte, in die Gänge zu kommen. Bidens frühere Präsidentschaftskandidaturen endeten vorzeitig und peinlich – wegen Plagiatsvorwürfen – oder chancenlos.
Legendär eine Schnurre aus seinem Senatsalltag: Barack Obama soll einst, als Jungsenator, während einer besonders langatmigen Biden-Rede stöhnend vor Langeweile auf einem Zettel notiert haben: „Erschießt. Mich. Jetzt!“ Vizepräsident wurde Biden dann deshalb, weil Obama einen erfahrenen Washington-Kenner an seiner Seite brauchte. Obama betraute Biden mit der Wiederbelebung der Wirtschaft nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 – und dieser erwies sich als fähiger Manager.
Die Coronakrise gab Biden im Wahlkampf Gelegenheit, Empathie und Bodenständigkeit zu zeigen. Er ist ein Mann, den das Schicksal über die Maßen in die Mangel nahm. Biden war 29 Jahre alt, als er 1972 in Delaware für den Senat kandidierte und überraschend gewann. Einen Monat nach der Wahl fuhr seine Frau Neilia mit den drei Kindern Naomi, Beau und Hunter los, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Sie übersah einen Lastwagen, der Unfall war grauenhaft: Die Mutter und die einjährige Tochter starben, die beiden Söhne überlebten verletzt. 2015 verlor der Vater seinen Sohn Beau – er starb an einem Hirntumor. Biden, das nimmt man ihm ab, wurde nicht bitter; er wurde weich.
Ein großer Visionär ist Joe Biden nicht. Lange Zeit schien sein Wahlprogramm vor allem eines zum Ziel zu haben: nach den chaotischen Jahren unter Trump wieder zum Zustand am Ende der Obama-Jahre zurückzukehren. Unter dem Einfluss der Jungen in seiner Partei kristallisierten sich dann doch ambitionierte Reformvorhaben heraus – und die zielen nicht nur darauf ab, Obamacare zu retten und auszubauen oder Trumps Steuerreform, die vor allem die Reichen entlastet, zurückzudrehen.
Biden verspricht schärfere Kontrollen von Waffenbesitzern. Er will die fast 100 Umweltschutzverordnungen, die Trumps Regierung abgeschafft hat oder dabei war abzuschaffen, wieder einsetzen. Er plant das Ende der fossilen und den Umstieg auf erneuerbare Energien. „Der Klimawandel bedeutet für mich: Jobs, Jobs, Jobs“, sagt Biden den frustrierten Arbeitern in der Ölindustrie. Donald Trump sieht selbst Verbündete als Feinde. Den Versuch, ein Präsident aller Amerikaner zu sein, nicht nur der seiner Fans, hat er nie unternommen.
Biden würde inhaltlich wohl nicht in allen Bereichen völlig andere Akzente setzen. Aber der Stilwechsel wäre dramatisch. Viel, das zeigt das knappe Wahlergebnis, hat sich in den vier Jahren Trump nicht verändert: Seine Basis blieb ihm treu. Wenige wandten sich ab; wenige kamen hinzu. Die Fronten zwischen den beiden Lagern sind auch nach dieser Wahl verhärtet. „Niemand erwartet den Himmel, wenn Biden kommt. Aber jeder erwartet die Hölle, wenn Trump bleibt“, sagt ein deutscher Diplomat.
Dass Biden aufgrund seines Alters nur als Übergangspräsident gilt, der das Land auf künftige Erneuerung vorbereitet, könnte dennoch Verdienst genug sein. Viele US-Bürger sehnen sich nach Normalität, nicht nach radikalem Umbau. Reparieren, Beziehungen kitten, Gegner ins Boot holen – das wären wichtige Aufgaben für den neuen Präsidenten, um die Vereinigten Staaten in einem gemeinsamen Kraftakt aus der Krise zu holen. Und das gilt nicht nur nach innen, sondern auch nach außen.
Die Europäer setzen große Hoffnungen in Biden. Er kennt Europa gut; er sieht in ihm einen Partner, etwa wenn es um den grünen Umbau der Wirtschaft geht. Was die Forderung an die Nato-Partner angeht, sich finanziell stärker ins Zeug zu legen, wird Biden kaum anders sein als Trump.
Biden ist zuzutrauen, mit der anderen Seite nicht weiter in den Kampf zu gehen, sondern hoffentlich ins Gespräch zu kommen. „Wir mögen unterschiedlicher Meinung sein“, sagte er im Wahlkampf. „Aber lassen Sie uns darin einig sein, dass wir dieses Land lieben.“
Sollte Joe Biden am Ende des Tages tatsächlich Präsident werden, wäre seine letzte große Karriere-Chance wohl auch eine Chance für Amerika, nach all dem Aufruhr wieder zu sich zu finden.