Warum wurde Wien zum Schauplatz eines Terroranschlags? Der Terrorismusexperte Nicolas Stockhammer von der Universität Wien sieht auf Basis der derzeitigen Erkenntnisse zwei Gründe dafür: Die Bundeshauptstadt sei einerseits ein relativ "leichtes Ziel" für Terroristen, anderseits habe Wien als Sitz internationaler Organisationen "Attraktivität als terroristisches Ziel", so Stockhammer am Dienstag gegenüber der APA.
Unmittelbarer äußerer Anlass der Tat war laut Stockhammer die Wiederveröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Frankreich. Die terroristische Bedrohung für ganz Europa sei seitdem "graduell überall größer". Im Gegensatz zu den jüngst erfolgten Terroranschlägen bei Paris, in Dresden und in Nizza sieht der Experte bei dem Anschlag in Wien aber "einen qualitativ großen Unterschied". "Während überall nur Hieb- und Stichwaffen verwendet wurden, wurden in Wien Schusswaffen eingesetzt", sagt er.
Wenig Polizeipräsenz
"Wien ist ein relativ weiches Ziel mit vergleichsweise wenig Polizeipräsenz", sagt der Experte. "Aufgrund der freiheitlichen Lebensweise wurde bewusst darauf verzichtet, schwer bewaffnete Sicherheitskräfte durch die Straßen laufen zu lassen wie das in anderen europäischen Städten der Fall ist." Zugleich stehe Wien als diplomatische Drehscheibe und Hauptstadt eines neutralen Landes sowie aufgrund der Lage im Herzen Mitteleuropas im internationalen Fokus. Das zeige sich auch nun an der internationalen Aufmerksamkeit für den Anschlag, so Stockhammer.
Der Experte geht davon aus, dass der Anschlag eigentlich für einen späteren Zeitpunkt geplant war und wegen des bevorstehenden Lockdowns kurzfristig früher als geplant durchgeführt wurde. Die Planung für einen derartigen Anschlag dauere nur wenige Tage bis zwei Wochen, wenn es sich um eine organisierte Zelle handle. Andernfalls würden dir Vorbereitungen länger dauern. Durch die Coronavirus-Pandemie seien natürlich auch Ressourcen der Sicherheits- und Abwehrkräfte gebunden, wenn diese etwa schauen müssten, ob die Corona-Maßnahmen oder die Ausgangssperre eingehalten werde.
Nicht überraschend
Völlig überraschend sei der Anschlag nicht, meint der Experte. Denn es habe in den vergangenen Jahren diverse Vorfälle gegeben und auch den einen oder anderen vereitelten Anschlag. "Wien ist nicht die Insel der Seligen, wie es von vielen gerne oft gesehen wird", so Stockhammer. Es habe auch immer wieder Warnungen von ausländischen Nachrichtendiensten gegeben und Österreich habe "eine vergleichsweise recht ausgeprägte islamistische Szene", sagt er. "Was die Migration ins sogenannte Kalifat also nach Syrien und den Irak betrifft, liegt Österreich an vierter Stelle in Europa." Insgesamt 320 Kämpfer seien von Österreich aus nach Syrien und in den Irak gezogen.
Dass der oder die Täter des Anschlags aus den Reihen der Rückkehrer stammen müsse, sei aber nicht automatisch anzunehmen. Er gehe aber aufgrund der Hinweise von einer Verlinkung in die jihadistische Szene aus.
Dass der Anschlag eine Reaktion auf die Beteiligung Österreich an der US-geführten Anti-IS-Koalition sei, wie ein Jihadist laut der auf die Überwachung islamistischer Websites spezialisierte US-Unternehmen SITE behauptete, glaubt Stockhammer nicht. "Das ist ein bisschen weit hergeholt, natürlich versucht man immer einen internationalen Kontext herzustellen, aber ich sehe das eher im europäischen Kontext."