Er ist noch langweiliger als seine Heimat Delaware“, findet man im Netz über Joe Biden. Für Donald Trump ist er schlicht „Sleepy Joe“. In Reiseführern wird Delaware als Bundesstaat zum Durchatmen beschrieben, Flüsse und Wälder prägen die Landschaft und die Nähe zum Atlantik. Wer Action will, ist in Delaware am falschen Platz.

Bis heute lebt Joe Biden mit seiner Frau dort in der Universitätsstadt Wilmington. Für den Ostküstenstaat arbeitete er sechs Amtszeiten als Abgeordneter im US-Senat, bis er 2009 als Vizepräsident in die Obama-Regierung einstieg. Die Kandidatur 2020 ist nicht Bidens erster Versuch, Präsident zu werden. 1988 war er aus dem Rennen, weil er die Rede des ehemaligen britischen Labour-Vorsitzenden Neil Kinnock kopiert hatte. Später hatte Biden schon bei der ersten Vorwahl gegen Barack Obama keine Chance.



Kann es dem 77-Jährigen jetzt gelingen, US-Präsident zu werden? Trump kann den Kampf um seine Wiederwahl zwar immer noch gewinnen, doch die überwiegende Mehrzahl der Umfragen sieht Joe Biden als Favoriten im morgigen Rennen ums Weiße Haus. Biden liegt demnach sowohl landesweit als auch in mehreren potenziell entscheidenden Bundesstaaten vor dem republikanischen Amtsinhaber – wenngleich sein Vorsprung gerade in diesen Staaten in den letzten Tagen etwas zurückgegangen ist.

Im Wahlkampf kämpfte Biden lange mit sich selbst. Seine vielen Patzer und Beleidigungen machen es ihm nicht leicht. Das „Time Magazine“ führt sogar eine Top-Ten-Liste mit Bidens Ausrutschern. Als er erklären wollte, dass arme Kinder ebenso begabt seien wie die Kinder von Reichen, sagte er, dass „arme Kinder ebenso begabt sind wie weiße Kinder“.
Im Wahlkampf sagte er gebetsmühlenartig: „Wir stellen Wahrheit über Fakten“, um dann zu erzählen, dass er sich „als Vizepräsident“ in der Ära Obamas mit überlebenden Schülern des Parkland-Massakers in Florida getroffen habe.



Doch diese Schießerei ereignete sich 2018, und da war Biden nicht mehr im Amt. Stets korrigierte Biden sofort seine Versprecher, doch das Unbehagen bei den Zuhörern blieb.
Und dann schwieg er. Wochenlang. Als in Amerika die Zahl der Coronatoten von Tag zu Tag alarmierender wurde, war Joe Biden von der Bildfläche verschwunden, untergetaucht. Erst Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in den USA meldete sich der 77-Jährige mit einem wöchentlichen Podcast zurück. „Es gibt ihn noch!“, ätzte damals das „New York Magazine“. Bidens Wahlkampf war von Anfang an von blutleerer Eleganz.

Und doch stieg er in den Ring. Trotz der im Raum stehenden Vorwürfe der sexuellen Belästigung einer ehemaligen Mitarbeiterin. Trotz der nebulosen Ukraine-Connection seines Sohnes Hunter. Donald Trump wirft Joe Biden vor, er habe als damaliger US-Vizepräsident seinen Sohn Hunter vor Korruptionsermittlungen in der Ukraine geschützt. Belege dafür gibt es freilich nicht. Seltsam blass blieb letztlich auch Bidens Vize Kamala Harris. Die 55-Jährige sollte die frische Kämpferin an der Seite des Politveteranen sein. Doch so historisch ihre Nominierung war, im Wahlkampf blieb sie seltsam unsichtbar.

Die Präsidentschaftswahl am 3. November bedeutet „die Welt für mich und meine Familie“, sagte Biden zu Beginn seiner Nominierung. Die Demokraten wählten ihn, denn er hat weit mehr Erfahrung als andere. Außerdem kommt Biden auch bei der Arbeiterschaft an, denn der Jurist inszeniert sich gut als Anwalt der kleinen Leute. Bei einigen stillt Biden auch die Sehnsucht nach den Obama-Jahren.

Schon Anfang des 16. Jahrhunderts stellte der Florentiner Niccolò Machiavelli in seinem Werk „Il Principe“ fest, dass man einen guten Herrscher immer an seinen guten Beratern erkenne. Als Barack Obama 2009 mit Joe Biden das Weiße Haus übernahm, brachte dieser eine jahrzehntelange Erfahrung im US-Senat mit. Als Vizepräsident war Biden immer mehr als nur der loyale Erfüllungsgehilfe seines Chefs. Als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Senat konnte Biden bereits internationale Erfahrung sammeln. „Im Grunde will Obamas einstiger Stellvertreter den Status quo vor Trumps Amtsübernahme wiederherstellen“, analysiert die „Zeit“.

Biden kommt mit seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen und seiner jovialen Art bei den Amerikanern auch gut an. Die ersten Jahre wuchs er in Scranton in Pennsylvania auf, einer von Kohle und Schwerindustrie geprägten Stadt. Erst später übersiedelte die Familie nach Delaware. Die ständigen Geldsorgen seiner Eltern und sein Stottern bescherten Biden keine leichte Kindheit.

Aber als Erwachsener wurde er vom Schicksal regelrecht gebeutelt. Seine erste Frau und eine Tochter starben bei einem Autounfall, seine beiden Söhne wurden dabei schwer verletzt. Seinen Amtseid als Senator legte er an den Spitalsbetten seiner Söhne ab. Es sind Bilder, wie sie Amerika nicht vergisst.

Biden ist zum zweiten Mal verheiratet, mit seiner Frau Jill hat er die gemeinsame Tochter Ashley. 2015 verstarb Bidens ältester Sohn Beau an einem Hirntumor im Alter von nur 46 Jahren. „Wie bringt man eine gebrochene Familie wieder zusammen?“, fragte Bidens Frau Jill in einer emotionalen Rede auf dem Parteitag der Demokraten und gab selbst die Antwort: „Genauso, wie man eine Nation zusammenbringt: mit Liebe und Verständnis.“ Vier Tage nach der Beerdigung seines Sohnes Beau habe Biden sich „rasiert, seinen Anzug angezogen“ und sei zurück zu seiner Arbeit als Vizepräsident gegangen.

Er muss sich einer Herkulesaufgabe stellen, sollte er die Wahl gewinnen. Die Polizei ist zu reformieren, das Klima zu retten. Die Hochschulgebühren will er abschaffen, die Steuern für Reiche erhöhen. Das Gesundheitssystem ist auszubauen, die schwer angeschlagene Wirtschaft wieder aufzubauen. Insgesamt will er eine Politik zur Stärkung der Mittelschicht machen. Und dann noch Corona. Mit mehr als 230.000 Coronatoten hat die Pandemie schon deutlich mehr amerikanische Opfer gefordert als der Vietnamkrieg. Und die Zahl der Arbeitslosen ist längst über die Millionenmarke gestiegen.

Mit dem Wahlslogan „Die besten Tage liegen noch vor uns“ ging Biden in die letzte und heiße Phase des Wahlkampfs. Für Millionen Amerikaner kann es tatsächlich nur noch besser werden.