1 Ist die Lage ernst?
Ja, die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Wenn wir so weitermachen wie bisher, könnte sie aber richtig kritisch werden: Dann nämlich, wenn nicht mehr alle Infizierten die Spitalsbehandlung kriegen, die sie brauchen. Und: Unsere Großmütter und Großväter sind stärker gefährdet, aber lebensbedrohlich erkranken können alle, auch die Jungen.
2 Wie kritisch ist die Lage in Sachen Spitalsbehandlung?
Sehr kritisch, weil es nicht nur um Betten geht, die ja aufgestellt werden könnten, sondern auch um Maschinen und Personal. Eine Verdoppelung innerhalb einer Woche bis zehn Tagen bedeutet, dass wir Mitte, Ende November am Ende der Kapazitäten wären.
3 Wäre der "Lockdown" vermeidbar gewesen?
Theoretisch ja, praktisch nein. Die Regierung unternahm alles, um auf Hausverstand und Abstandsregeln zu setzen, doch freiwillig auf Distanz zu allen Freunden, Bekannten, Kollegen und Verwandten zu gehen, das fällt uns schwer. Zu schwer.
4 Haben wir es mit einem "Shutdown" zu tun?
Nein, das würde das Schließen sämtlicher Betriebe, Geschäfte und Schulen bedeuten - ein Zustand, ähnlich dem, den wir im Frühjahr hatten. Das sollte auf jeden Fall vermieden werden, denn es bedeutet wirtschaftlich, dass noch mehr Arbeitsplätze verloren gehen, und gesellschaftlich, dass junge Leute Monate in Sachen Bildung verlieren.
5 Reicht es jetzt, die Regeln zu beachten?
Nein. Die Regeln können nur den Rahmen vorgeben, der Rest liegt immer noch am Hausverstand. Ein Beispiel: Eine Ausgangssperre zwischen 20 Uhr und 6 Uhr bedeutet: Die Ampel steht auf Rot, im wahrsten Sinne des Wortes. Man kann trotzdem verbotenerweise über die Straße gehen, aber man sollte nicht. Erstens weil es dumm wäre und ein Restrisiko bleibt, zweitens weil man andere zur Nachahmung anstiftet. Ein zweites Beispiel: Home-Office kann den Betrieben nicht verordnet werden, aber jeder Betrieb, bei dem das Arbeiten von zu Hause aus möglich ist, handelte fahrlässig, würde er das Risiko einer Infektion seiner Beschäftigten eingehen.
6 Sind die, die nicht von zu Hause aus arbeiten können, die Blöden?
Sie sind die, die es uns ermöglichen, unser Leben weiter zu leben, seien es die Beschäftigten im Handel, die Krankenschwestern oder die Straßenbahnfahrer. Es liegt an uns, dass sie nicht zu den Blöden werden, indem wir alle Vorsichtsmaßnahmen anwenden, um sie nicht zu gefährden: Abstand halten, Hände waschen, Maske tragen.
7 Schützen die Masken überhaupt vor Ansteckung?
Sicher ist nur, dass keine Maske zu 100 Prozent schützt, schon allein deshalb, weil sie zu jedem Zeitpunkt perfekt sitzen müsste. Aber Maske tragen ist besser als keine Maske tragen, so viel steht fest. Und sei es nur, um uns in jeder Sekunde die Notwendigkeit bewusst zu machen, nicht andere durch zu große Nähe, durch Husten oder Niesen zu gefährden.
8 Der Verfassungsgerichtshof hat gerade wieder Regeln aus dem Frühjahr aufgehoben. Hat die Regierung Fehler gemacht?
Ja, hat sie. Aber wer keine Fehler gemacht hat in der Einschätzung des Risikos und im Handeln seit dem Frühjahr, der werfe den ersten Stein. Manche Regeln waren unlogisch, andere ungerecht, wieder andere nicht ausreichend begründet. Wie in jedem anderen fall gilt wohl: "Learning by doing." Auf jeden Fall hat sie die Lage seit Mitte März ernst genommen, und dann rasch reagiert. Das wird auch im internationalen Vergleich so gesehen.
9 Ist es gescheit, dass uns die Regierung die neue Situation nur zitzerlweise verklickert und damit neue Unsicherheit schafft?
Nein. Aber es ist auch nicht ganz einfach, die richtige Vorgangsweise und das richtige Tempo zu wählen. Ist sie zu schnell mit neuen, strengen Maßnahmen, fühlt sich die Bevölkerung ohne Not kontrolliert und reglementiert. Ist sie zu langsam, wird sie für die Eskalation der Lage, nicht zuletzt für unnötige Todesfälle verantwortlich gemacht. Informiert sie gleichzeitig alle, fühlen sich die politischen Partner - die Sozialpartner, Länder und Gemeinden, die anderen Parteien - übergangen. Informiert sie diese zuerst, dringen unweigerlich einzelne Versatzstücke und Dokumente nach außen.
10 Die neuen Maßnahmen haben nichts mehr mit dem Ampelsystem zu tun. War die Ampel von Anfang an eine Totgeburt?
Nein, es war eine kluge Idee, geprägt von derselben Absicht wie jene, die mit der Maskenpflicht und mit nicht verpflichtenden Empfehlungen verbunden sind, etwa jener, zu Allerheiligen keine Familienzusammenkünfte zu planen: Es geht darum, Warnsignale zu senden, die jedermann bewusst machen, wie ernst die Lage ist. Die regionalen Fallzahlen im Blick zu haben und mit regionalen Maßnahmen darauf zu reagieren ist außerdem besser, als alles über einen Kamm zu scheren, das hat die Lage im Frühjahr gezeigt. Das Problem ist nur, dass die Infektionszahlen derzeit überall stark steigen, gerade auch am Land, und in fast allen Bundesländern. Das hat die Ampelschaltung und die ursprünglich daran geknüpften Maßnahmen obsolet gemacht.
Claudia Gigler