Fast könnte man sich freuen: es gibt kaum noch Staus in und um Brüssel. Während und nach des ersten Lockdowns hatte sich die Stadt zur Fußgänger- und Radfahrercity gewandelt, auf die typisch belgische Art: Fahrspuren ohne erkennbares Konzept abriegeln und Radspuren in wilder Planlosigkeit auf den Asphalt pinseln, die Innenstadt eher willkürlich mit Beton-Blockaden durchsetzen, wichtige Straßenverbindungen kappen - und alle hatten befürchtet, nach der „Rückkehr in die Normalität“ würde der Verkehr in der Stauhauptstadt Europas endgültig zusammenbrechen. Doch obwohl die meisten Menschen seit Monaten Züge und U-Bahnen meiden und jeder, der kann, mit dem eigenen Auto zur Arbeit fährt, sind die Straßen nur noch selten verstopft.
Wer die Möglichkeit hat, bleibt zu Hause. In den EU-Institutionen ist ein Großteil der Mitarbeiter im Homeoffice. Am Schuman-Kreisverkehr, wo normalerweise Hunderte Menschen von einem Bürogebäude ins andere eilen, schaut es aus wie sonst an verregneten Sonntagvormittagen. Nur wenige hasten Richtung Kommissionsgebäude oder die Rue de la Loi hinunter. Alle tragen Masken, vielfach sogar die Läufer, die im nahen Parc du Cinquantenaire ihre Runden drehen und selbst manche Bewohner in schmalen, unbelebten Seitengassen auf dem Weg vom Auto zur Haustür. Belgien war schon von der ersten Corona-Welle stark getroffen worden und den ganzen Sommer über bis zuletzt konnte man den Eindruck gewinnen, die Belgier halten sich eigentlich recht gut an die Regeln.
Ein Besuch im Supermarkt oder im Brico, der großen Baumarktkette, ist durchorganisiert: Am Eingang wacht jemand darüber, dass nicht zu viele gleichzeitig hineingehen (die Quadratmeterzahl gibt den Ausschlag), Einkaufswagen sind wegen der Abstandsregeln verpflichtend, sie werden vor den Augen der Kunden desinfiziert. Ähnlich geht es zu beim Bäcker, in der Drogerie, beim H&M: Desinfektionsmittel am Eingang, regulierte Besucherzahl, Masken. Beim Burger King neben dem Carrefour-Supermarkt sind die Sitzplätze abgesperrt, es gibt nur noch Abholung. Halloween, natürlich, ist abgesagt.
Dennoch gehen die Zahlen durch die Decke, über die Gründe dafür gibt es viele Mutmaßungen. Auch hier könnten es private Runden und Partys gewesen sein, dazu kommt die nach wie vor rege Reisetätigkeit der Belgier und der internationalen Community. Das Land ist sehr zersiedelt, es bildet wie Nachbar Niederlande einen einzigen, großen Ballungsraum. Belgien hat auch noch ein spezielles Problem, die Aufteilung zwischen Flandern und der Wallonie und dann noch in viele Kleinregionen. Marc Van Ranst, Virologe an der Universität Löwen, wies diese Woche gegenüber der NZZ darauf hin, dass es in Belgien aufgrund des föderalen Systems neun Gesundheitsminister gäbe: „Und keiner kennt die Namen der acht anderen.“
Höchster Wert in Europa
Mehr als 14.000 Menschen werden mittlerweile täglich als Infizierte erkannt, die 14-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner liegt bei 1497, das ist längst der höchste Wert in Europa. Mehr als 11.000 Menschen sind gestorben, täglich müssen derzeit schon mehr als 700 in Spitalsbehandlung, fast 1000 liegen auf Intensiv. Das Gesundheitssystem kommt neuerlich in Grenzbereiche, nicht notwendige Operationen werden verschoben, Krankenhäuser wie jene in Lüttich erreichen ihre Kapazitätsgrenzen. Deutschland hat bereits Hilfe angeboten – die Grenze war nie zu und wird es auch nicht sein.
Fast täglich sind zuletzt in Belgien neue Restriktionen dazugekommen. Cafes, Bars und Restaurants sind geschlossen, der Verkauf von Alkohol nach 20 Uhr verboten. Zwischen 22 Uhr und sechs Uhr früh gilt eine Ausgangssperre – wer kontrolliert wird, muss einen triftigen Grund für seine Anwesenheit vorbringen. Und tatsächlich: nachts um zehn sind die Straßen wie leergefegt, kaum noch jemand ist draußen. Eine Gruppe von Bürgern hat dagegen bereits Klage eingereicht, das sei verfassungswidrig - Widerstand gibt es auch hier, trotz der erschütternden Zahlen. Auch Teamsport geht nicht mehr, Fitnessclubs sind ebenso wie alle Freizeitzentren geschlossen. Immerhin sind die Schulen noch in Betrieb; auch das könnte sich für die älteren Schüler (ab 15) zumindest schon bald wieder ändern, eine Entscheidung darüber und noch strengere Maßnahmen werden täglich erwartet.
Betroffenheit der Bürger
Das Regionalfernsehen berichtet über Bürger, die auch hier die Welt nicht mehr verstehen. Etwa aus Gognies-Chaussee, einem kleinen Ort an der Grenze zu Frankreich. Im engsten Sinn des Wortes: es ist ein geteilter Ort, die Grenze verläuft mittendurch. Der nächste größere belgische Ort ist Mons. An der Hauptstraße gibt es einige Restaurants – die auf der belgischen Seite sind geschlossen, die auf der französischen waren diese Woche noch offen. Odile Rousseau vom „Au carrefour des saveurs“ konnte ihr Lokal immerhin an drei Tagen von 18 bis 21 Uhr öffnen – das stylische „Le Prestige du Clothaire“ von Karim Agag schräg vis a vis muss schon seit zwei Wochen zubleiben. „Die Tage vergehen und sehen gleich aus. Wir vermissen dich“, steht seit gestern auf der Facebookseite des Lokals. Doch auch Frankreich schließt nun die Restaurants, die Ungleichheit wird an diesem Wochenende beendet – nicht so, wie Rousseau und Agag sich das vorgestellt hatten.
Die an Corona erkrankte belgische Außenministerin und Vize-Premierministerin Sophie Wilmes konnte am Mittwoch die Intensivstation verlassen, sie bleibt aber weiterhin in Spitalsbehandlung. Die 45-Jährige hatte vor eineinhalb Wochen am Ratstreffen in Luxemburg teilgenommen, wo sich vermutlich auch ihr österreichischer Amtskollege Alexander Schallenberg angesteckt hat. Nun sind die EU-Meetings wieder auf ein Mindestmaß reduziert, auch der informelle EU-Sondergipfel, der am Donnerstag Abend als erster von mehreren einer koordinierten Reaktion der EU auf die Pandemie gewidmet ist, findet daher nur per Video statt. Ebenso das für Freitag angesetzte informelle Treffen der Gesundheitsminister, die sich hauptsächlich mit der WHO-Reform befassen. Corona und die Folgen laufen unter dem Punkt „Verschiedenes“.
In den Straßen und Gassen des EU-Viertels ist inzwischen fast jedes zweite Geschäft oder Lokal zu vermieten.