Das zweite TV-Duell zwischen Donald Trump und Joe Biden verlief ohne Schreiduelle und deutlich gesitteter als das erste. Dennoch hat man den Eindruck, dieser Wahlkampf wird nicht von Inhalten dominiert, sondern von der Corona-Krise und vom Zustand des Körpers des Präsidenten. Wie wird sich seine zeitweise Erkrankung auf den Wahlkampf auswirken?
CONSTANZE STELZENMÜLLER: Ich vermute, die Kritiker wird es genauso bestärken wie seine Fans. Polarisierung ist mit das wichtigste Herrschaftsmittel dieses Präsidenten. Allerdings sagen die Umfragen auch, dass sich einige seiner früheren Wählergruppen – wie zum Beispiel die Senioren – in wahlentscheidenden Staaten wie Florida deshalb von ihm abwenden.
In Umfragen liegt Joe Biden bis zu 16 Prozent-Punkte vor Trump. Ist dieser Vorsprung noch einzuholen? Könnte Biden das Schicksal Hillary Clintons drohen, die 2016 in den Umfragen führte und trotzdem verlor?
STELZENMÜLLER: Den Umfragen zufolge unterscheidet sich diese Wahl von der von 2016 in zwei wichtigen Hinsichten: Es gibt schon jetzt kaum noch unentschlossene Wähler – vor vier Jahren war das ein Drittel –, weil Trump nun eine bekannte Größe ist. Und die Umfrageinstitute haben, nach den Fehleinschätzungen von 2016, ihre Methodik überarbeitet. Dennoch gilt: Wahlentscheidend ist nicht die absolute Stimmenmehrheit, sondern die Mehrheit im Wahlmännerkollegium. Und in den sogenannten “Swing States” ist die Marge für Biden deutlich enger. Das Rennen bleibt offen.
Diese Wahl wird oft als historische Richtungsentscheidung bezeichnet. Trump-Gegner warnen, bei einer Wiederwahl des Republikaners würde von den USA, wie wir sie kennen, wenig übrig bleiben – sie sehen die Demokratie bedroht. Ist das nicht übertrieben?
STELZENMÜLLER: Historisch ist diese Wahl, weil Trumps Politik einen Bruch mit fast allen amerikanischen Traditionen der Nachkriegszeit darstellt. Gewinnt er eine zweite Amtszeit, wird er sich ermächtigt fühlen, verhinderte Vorhaben endlich umzusetzen; dazu könnte auch der Austritt aus der Nato gehören.
Zu den Brüchen mit der Tradition kann man zählen, dass Trump andeutet, er werde eine Wahlniederlage nicht anerkennen. Halten die Institutionen der US-Demokratie solche Manöver aus?
STELZENMÜLLER: Nach Trumps Äußerung Ende September hat die gesamte Führung der Republikanischen Partei, vom Senatssprecher Mitch McConnell an abwärts, gesagt, dass es im Falle einer klaren Niederlage eine geordnete Machtübergabe geben werde. Anders wäre es womöglich, wenn das Ergebnis unklar ist oder auf sich warten lässt; dann würden es die Republikaner sicher auf eine Klärung im Kongress oder dem Supreme Court ankommen lassen.
Sie haben kürzlich in einer Analyse diagnostiziert, die US-Politik befinde sich bereits in einer Art Verfassungskrise. Woran lässt sich das ablesen?
STELZENMÜLLER: Trump ist der erste Präsident der USA, der den Grundkonsens der amerikanischen Verfassung – Unabhängigkeit der Institutionen, Gewaltenteilung, politischen Pluralismus, Pressefreiheit, um nur einige zu nennen – regelmäßig in Frage stellt.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass es nach der Wahl zu gewalttätigen Konfrontationen kommt? Manche sehen bereits bürgerkriegsähnliche Szenarien am Horizont.
STELZENMÜLLER: Es hat einen aufsehenerregenden Aufsatz von Barton Gellman im Magazin „The Atlantic“ gegeben, der solche Szenarien durchdekliniert, ja. Aber je höher die Wahlbeteiligung am 3. November ist – und allem Anschein nach wird sie historisch hoch sein –, und je klarer das Ergebnis am Wahlabend ist, zum Beispiel wenn Trump entscheidende Swing States verliert, desto weniger Raum bleibt dafür.
Die „Black-Lives-Matter“ Bewegung hat das Thema Rassismus neu aufs Tapet gebracht. Doch bisher scheint man wenig erreicht zu haben. Droht hier eine Radikalisierung der Bewegung?
STELZENMÜLLER: Es stimmt, dass Amerika hier noch viel Arbeit vor sich hat – und, wenn ich das als Tante und Freundin von Afrodeutschen hinzufügen darf, Europa übrigens auch. Dass der Zorn den einen oder anderen radikalisiert, wird kaum auszuschließen sein. Aber wenn man dem FBI glauben darf, geht derzeit die eindeutig größte terroristische Gefahr in Amerika von weißen Rechtsterroristen aus.
Wie schätzen Sie langfristig die Bedeutung der „Black-Lives-Matter“ Bewegung ein? Die Historikerin Jill Lepore betont, die USA seien, auch in Bezug auf die Sklaverei, eine in Widersprüchen geborene Nation. Sind die jetzigen Auseinandersetzungen ein Versuch, diese Widersprüche zu überwinden?
STELZENMÜLLER: Das ist ein weites Feld. Aber es kann sein, dass die Amtszeit von Barack Obama viele liberale Amerikaner dazu verführt hat zu glauben, nun sei das Thema Sklaverei und Rassismus endgültig vorbei. Der gleichgültige Blick des Polizisten, der George Floyd vor laufender Kamera ermordet hat, hat viele eines Besseren belehrt. Dass so viele Amerikaner – auch in weißen und ländlichen Gebieten – danach wochenlang empört demonstriert haben zeigt, dass hier ein schmerzlicher Lernprozess stattfindet.
Wie lässt sich die derzeitige Zerrissenheit und Polarisierung kitten? Ist Joe Biden zuzutrauen, dass er die aufgewühlten Emotionen beruhigt?
STELZENMÜLLER: Biden ist von seinem ganzen Naturell her ein empathischer Mensch und Brückenbauer. Aber radikale Gruppen gibt es bei den Republikanern wie bei den Demokraten. Und Amerikas gegenwärtige Konflikte sind wesentlich struktureller Natur; das wird einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung bedürfen. Das sehen aber vermutlich sehr viele Amerikaner so.
Europa scheint die USA unter Trump als Partner abgeschrieben zu haben – und umgekehrt. Ist die Hoffnung, dass das mit Biden als Präsident anders sein könnte, realistisch? Oder hat die EU geopolitisch mittlerweile zu wenig Gewicht, um in Washington eine besondere Rolle zu spielen?
STELZENMÜLLER: Erstens: Europa ist, Trump betreffend, durchaus gespalten. Die Westeuropäer haben die größten Probleme mit ihm; Ungarn, Polen, und auch Großbritannien sehen in ihm einen (wenn auch nicht einfachen) Freund und haben versucht, die Kooperation auszubauen. Auch die Skandinavier stehen ihm deutlich pragmatischer gegenüber als beispielsweise Berlin. Zweitens: Biden und sein Team wissen, dass Europa für Amerika der wichtigste Partner ist, und sie warnen vor zu großer Nähe zu Russland und China. Dass Europa und die EU über wichtige diplomatische und wirtschaftliche Machtressourcen verfügen, ist ihnen sehr bewusst – und das ist ein Pfand, mit dem Brüssel durchaus selbstbewusst auftreten kann. Immer vorausgesetzt, die EU lässt sich nicht spalten.