Herr Ginzburg, was ist wahr und was ist falsch? Diese Frage ist so alt wie die Menschheit. Wie sehr hat sie Ihr eigenes Leben bestimmt?
CARLO GINZBURG: Ich bin heute ein alter Mann und mein geistiges Arbeitsumfeld hat sich stark verändert. Als ich Anfang der Sechzigerjahre den Beruf des Historikers ergriff, gab es den alles in Zweifel ziehenden, postmodernen Relativismus noch nicht. Ich wollte das Hexenwesen erforschen – ein Feld, das kaum jemand beackerte. Erst Jahre später wurde mir bewusst, wie sehr meine Erfahrung als im Zweiten Weltkrieg verfolgtes jüdisches Kind meine Wahl mitbestimmt hatte. Nur das verdrängte ich damals. Ich war jung, links und wollte zeigen, dass die Hexenprozesse eine frühe Form des Klassenkampfes seien. In Modena stieß ich auf die Akten eines Prozesses von 1519 gegen eine Bäuerin, Chiara Signorini, die angeklagt worden war, ihre Herrin verhext zu haben, da diese sie und ihren Mann von ihrem Grund vertrieben hatte. Ich hatte, was ich wollte. Und doch war ich irgendwie enttäuscht.
Warum enttäuscht?
Ich spürte, dass mit meiner These etwas nicht stimmte, wenn sie sich so leicht bestätigen ließ. Zwischen den Antworten der Frau und den Erwartungen der Ankläger gab es eine Kluft. Ich ahnte, dass es möglich sein müsse, unter die Oberfläche eines von den Inquisitoren modellierten Prozesses zu dringen und die Stimmen der Verfolgten und Fragmente ihrer andersartigen Kultur und Glaubensvorstellungen freizulegen. Durch Zufall geriet mir kurz darauf im Staatsarchiv von Venedig das Verhör von Menichino della Nota in die Hände, einem Kuhhirten aus Latisana in Friaul, der den Inquisitoren freimütig erzählte, viermal im Jahr gemeinsam mit anderen, die so wie er „im Hemd“, also in der Fruchtblase, zur Welt gekommen waren, nachts im Geiste auszuziehen und gegen Hexer um die Fruchtbarkeit der Felder zu kämpfen.
Hinter der durch Folter abgepressten angeblichen Wahrheit trat eine andere Realität zutage.
Ich war auf die Benandanti gestoßen, einen uralten bäuerlichen Kult, der im Friaul des 16. und 17. Jahrhunderts noch sehr lebendig war. Diese Entdeckung wühlte mich auf. Sie hat meinem Leben eine Wende gegeben. Hier hat für mich alles begonnen – mit der Idee, dass die Analyse einer untypischen historischen Quelle unendlich ergiebiger und die Anomalie reicher sein kann als die Norm. Um über das Studium eines Dokuments über das Offensichtliche hinaus zur Wahrheit zu gelangen, dürfen wir es aber nicht naiv als offenes Fenster betrachten, sondern müssen es uns als Glasscheibe vorstellen, die alles Dahinterliegende verzerrt. Jahre später, als ich in den USA lehrte, wurde ich mit einem völlig andersartigen intellektuellen Ambiente konfrontiert, das ausgehend von einer Neuinterpretation von Friedrich Nietzsches Jugendwerk „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ von der Überzeugung getragen war, dass alles Rhetorik und es folglich unmöglich sei, zwischen Geschichte und Dichtung zu unterscheiden. Ich hielt und halte diese neoskeptische Haltung für falsch und für moralisch und politisch gefährlich.
Warum ist sie das?
Weil damit alles zur Fiktion wird. Hayden White, der wichtigste Verfechter dieser Position, ging sogar so weit, über Holocaustleugner zu schreiben, er finde deren Thesen zwar moralisch widerwärtig, aber sei außerstande, sie zu widerlegen. Ich fand das ungeheuerlich und konterte mit dem Aufsatz „Nur ein Zeuge“. Darin geht es um ein Massaker an Juden im provenzalischen Dorf La Baume im Jahr 1348, das nur ein einziger Mann überlebte, der das Geschehene auf einer Thorarolle festhielt. Wir haben also nur ein Dokument und einen Zeugen – ein Extremfall. Aber die Frage nach der Echtheit des Dokuments ist hier ebenso entscheidend wie im Fall der Abertausenden Erzählungen von Überlebenden der Shoa, die von den Holocaustleugnern als Lügen abgetan werden. Im Rückblick glaube ich, dass der Neoskeptizismus das intellektuelle Ambiente der Siebziger- und Achtzigerjahre vergiftet und das Klima begünstigt hat, in dem heute Fake News und Verschwörungstheorien gedeihen.
Wie kommt man dagegen an?
Meine Antwort ist einfach. Man muss zu den Waffen der Philologie greifen und Beweise erbringen, wie es der römische Humanist Lorenzo Valla tat. In einer viel älteren aristotelischen Tradition der Rhetorik stehend, enttarnte er 1440 die Konstantinische Schenkung als Fälschung. Mit dieser Urkunde hatte Kaiser Konstantin I. den Päpsten angeblich die Westhälfte des Römischen Reiches übertragen. Über den Nachweis sprachlicher Anachronismen zeigte Valla, dass das Dokument nicht echt sein konnte. Fake News sind also alles andere als neu. Ich erinnere hier auch an das großartige Buch „Die wundertätigen Könige“, in dem Marc Bloch 1924 den im Mittelalter in Frankreich und England entstandenen Glauben analysierte, die legitimen Monarchen könnten mit einer Handberührung an den Skrofeln erkrankte Menschen heilen. Auch das ist ein Ereignis, das es nie gab.
Ein harmloser Aberglaube. Warum transportieren die Fake News unserer Tage dagegen oft so aggressive Botschaften?
Auch dieses Phänomen ist kein Novum. Im Buch „La Grande Peur de 1789“ – „Die Große Angst von 1789“, beschreibt Georges Lefebvre, wie sich nach dem Sturm auf die Bastille in den ländlichen Gegenden Frankreichs die Mär verbreitete, die Adeligen hätten ein Komplott geschmiedet, um die Bauern zu töten. Aus Furcht vor dieser imaginären Verschwörung kam es zu Ausbrüchen von Gewalt. Wirklich neu scheint mir heutzutage dagegen die rasante Vervielfältigung von Falschnachrichten primär durch das Internet zu sein. Ich bin auf diesem Gebiet kein Spezialist. Aber ich habe mir sagen lassen, dass viele Fake News von Social Bots, also Meinungsrobotern, produziert werden, hinter denen kein Mensch mehr steckt. Das macht diese Schlacht so schwierig.
Lässt sie sich überhaupt führen?
Auch der enorme Erfolg der Konstantinischen Schenkung verdankte sich in gewisser Weise einer nicht fassbaren Zirkulation. Vallas Idee war es, von innen heraus das Wahre und das Falsche zu rekonstruieren. Wie kann in diesem Sinn eine digitale Philologie beschaffen sein? Die Neuen Medien zwingen uns nie gekannte Tempi auf. Für Nietzsche war Philologie die Kunst des langsamen Lesens. Ich meine, wir müssen unsere Kinder bereits in der Schule lehren, die Schnelligkeit des Internets mit der Kunst des langsamen Lesens zu kombinieren.
Ist das Wuchern von Verschwörungstheorien Ausdruck unseres Unvermögens, mit der Komplexität der Welt zurechtzukommen?
Sie sprechen von „unserem“ Unvermögen. Das ist mir zu verallgemeinernd. Denn es verwischt die Unterscheidung zwischen dem, der Feindbilder produziert, und jenen, die darunter leiden. Die Idee des Sündenbocks ist uralt, aber bis heute aktuell. Denken Sie nur an die von Trump entfachte Debatte über die Mauer an der Grenze zu Mexiko! In meinem Buch „Hexensabbat“ habe ich die Verbreitung der Idee eines Komplotts im Frankreich des Jahres 1321 nachgezeichnet. Erst waren es die Leprakranken, die angeblich die Christenheit auslöschen wollten. Dann die Leprakranken, die von den Juden angestiftet wurden. Und am Ende steckten die Juden und der muslimische König von Granada hinter der Verschwörung. In Wahrheit handelte es sich jedoch um eine groß angelegte Machenschaft weltlicher und kirchlicher Autoritäten, die mich an die Anschläge in Italien Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger erinnert. Auch damals waren rasch die Anarchisten als Schuldige gefunden, obwohl von den Geheimdiensten gesteuerte Neofaschisten dahintersteckten.
Welchen Wert besitzt in einer immer virtuelleren Welt die Wahrheit überhaupt noch?
Sie lieben es, den Advocatus diaboli zu spielen. Er ist auch mein bevorzugter Gesprächspartner. Wenn die Menschheit die Unterscheidung zwischen wahr und falsch verliert, dann ist sie dazu verdammt, von dieser Erde zu verschwinden. Es ist wie mit einem Hungrigen, der sich auf Steine wirft, weil er diese für genießbar hält. Erkennt er seinen Irrtum nicht, sondern hält daran fest, verhungert er. Ohne Wahrheit sind wir verloren.