Die SPD-Politikerin Giorgina Kazungu-Haß war überrascht. „Es ist Sitzungspause, ihr schreit einen leeren Bundestag an“, klagte sie auf Twitter. Doch das war den Protestierern egal. Ihnen ging es ums Symbol. Vor dem Brandenburger Tor, im Zentrum Berlins, demonstrierten sie am Wochenende gegen die Corona-Maßnahmen im Land. „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“, lautete das Motto. Dazu passte, dass sich der Protestmarsch auf der Straße des 17. Juni formierte. Der Name erinnert an den Volksaufstand 1953, als Tausende im Berliner Osten gegen das DDR-Regime rebellierten.
Das Rebellen-Image gegen die da oben hätten sich die Protestierer – die Polizei spricht von knapp 20.000 Demonstranten, die Veranstalter von 1,2 Millionen – gern angeeignet. Bleibt ein Problem: „Tag der Freiheit“, so lautet auch der Titel eines Propaganda-Films der Nazi-Hofregisseurin Leni Riefenstahl über den NSDAP-Parteitag 1935 von Nürnberg. Damit gingen aber auch die antisemitischen NS-Rassengesetze einher.
Überwiegend weiß, männlich und aggressiv
Die Anti-Corona-Bewegung ist eine illustre Truppe. Das Publikum in Berlin: überwiegend weiß, überwiegend männlich und überwiegend aggressiv. Die wenigen im Zug, die einen Mund-Nasen-Schutz trugen, wurden lautstark aufgefordert, diesen abzulegen. Pressevertreter wurden angegangen. Die ZDF-Journalistin Dunja Hayali musste ihre Arbeit abbrechen, sie und ihr Team wurden bedrängt und als „Lügenpresse“ beschimpft.
Die Atmosphäre in Berlin erinnerte an die Pegida-Bewegung, die nach 2015 von Sachsen aus über das Land schwappte. Von einer diffusen Ressentiment-Bewegung sprach der Protestforscher Dieter Rucht damals. Das trifft auch auf die Covid-Protestierer zu.
So waren auf der Demo vereinzelt blaue Fahnen mit Friedenstauben zu sehen – das Zeichen der Friedensbewegung der 80er-Jahre. Vom libertären Aufbruch ist in Coronazeiten allein die radikale Systemopposition geblieben. Sie vermengt sich ein wenig mit Rudolf Steiner’scher Anthroposophie und machte zuletzt gegen die Masern-Impfpflicht mobil. Mein Körper und seine Unversehrtheit sind mir heilig.
Andere Demonstranten in Berlin skandierten „Wir sind das Volk“. 1989 in der DDR war das noch als Aufstand gegen die SED-Herrschaft gemeint. In der Corona-Bewegung ist der Protest einer allgemeinen Eliten-Kritik gewichen. Diese richtet sich nicht allein gegen Politiker. Wer am Band an Autos schraubt, kann schlecht auf Homeoffice und Zoom-Meetings umsteigen. Vom nervenden Homeschooling ganz zu schweigen. Hier dominieren die Existenzangst und die Furcht, dass die Pandemie die digitale Transformation noch beschleunigt. Virale Modernisierungsverlierer sozusagen.
„Volk“ hat bei diesem Aufstand von unten einen eigenen Klang. Der Politologe Emmerich Francis hatte einst mit Blick auf die Herkunft des Wortes eine feine Unterscheidung gemacht. Das Griechische kennt für Volk gleich zwei Bezeichnungen – Demos als Staatsvolk wie in Demokratie und Ethnos als Abstammungsgemeinschaft. Die DDR-Bürgerrechtler hatten Ersteres im Blick, die Corona-Aktivisten schielen auf Letzteres.
Viel mehr als nur "Maskenmuffel"
So wurden im Publikum auch Reichskriegsflaggen gesichtet, die schwarz-weiß-rote Fahne aus dem Kaiserreich gilt als Erkennungszeichen radikaler Rechter. In der Reichsbürgerbewegung formiert sich ein harter Kern, der die Legitimität des Grundgesetzes bestreitet. Unter diesem Vorwand werden auch Steuerzahlungen abgelehnt. Nur zu verständlich, dass nun die Maskenpflicht als vermeintliche staatliche Willkür abgelehnt wird.
Daher ist es zu einfach, die Protestierer von Berlin als misanthrope Maskenmuffel abzustempeln. Noch sind sie eine diffuse Gruppe. Aber Verfassungsschützer in Deutschland hatten schon im Frühjahr davor gewarnt, dass rechte Extremisten die Bewegung kapern.
Das Virus als Brandbeschleuniger. Mit der Furcht vor einer zweiten Welle wächst diese Angst – auch mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr. Die AfD kann von dem Protest in Umfragen noch nicht profitieren. Sie verharrt bei Werten um die zehn Prozent. Aber noch ist unklar, wie schnell sich die Wirtschaft erholt. Anders als gegen das Coronavirus hilft gegen die ökonomischen Risiken kein Impfstoff. Auch deshalb sind die Bilder vom Wochenende so alarmierend – selbst vor einem leeren Reichstag.
unserem Korrespondenten Peter Riesbeck aus Berlin