Mitten in der Coronakrise sollen sich die Briten nun auch auf den Bruch mit der EU zum Jahresende vorbereiten. Der von der Regierung viel beschworene „Neustart“ in die Post-Brexit-Ära bringt erst einmal zusätzliche Ausgaben für viele Bürger, mehr Bürokratie, kostspielige neue Grenzanlagen und scharfe Einwanderungs-Restriktionen mit sich.
Da nur die wenigsten Briten auf das Ende der Zugehörigkeit ihres Landes zu Binnenmarkt und Zollunion der EU vorbereitet sind, hat Boris Johnsons Regierung am Montag zum „Neustart des Vereinigten Königreichs“ eine massive Kampagne unter dem Motto „Let’s get going“ (Los geht’s) in Gang gesetzt.
Mit Zeitungsanzeigen, Radio- und Fernseh-Informationen, Online Appellen und SMS-Botschaften werden Privatleute und Firmen jetzt darauf hingewiesen, dass sie sich langsam auf ein Leben jenseits vertrauter Regelungen einstellen müssen.
Unter anderem machen die Anzeigen klar, dass die europäischen Versicherungskarten vom 1. Jänner weg für Briten nicht mehr gelten werden und man sich stattdessen vor Reisen zum Kontinent gegen Unfälle und Krankheit jeweils extra versichern muss – was zumal zu Coronazeiten erhebliche Summen kosten kann.
Urlauber müssen künftig außerdem sicherstellen, dass ihre Reisepässe noch mindestens ein halbes Jahr Vorlaufzeit haben und sie beim Mitbringen von Haustieren vier Monate vor der Abreise über gültige Impfpapiere verfügen.
Möglicherweise werden Briten bei der Fahrt „nach Europa“ von Jänner an eigene grüne Versicherungskarten für ihre Fahrzeuge und internationale Führerscheine brauchen. Und die Gebühren fürs Telefonieren mit britischen Handys auf dem Kontinent steigen mit Sicherheit kräftig an – das Gratis-Roaming ist eine EU-Errungenschaft und gilt für Drittländer nicht mehr.
Noch unmittelbarere Folgen haben die neuen Vorschriften für Lastwagenfahrer, die sich fürs neue Zollverfahren anmelden und über etliche bürokratische Hürden springen müssen. Während London im ersten Halbjahr 2021 noch auf Warenkontrollen und Verzollung verzichten will, weil es mehr Zeit zum Aufbau seiner Zollanlagen braucht, treten diese Maßnahmen auf der Gegenseite unmittelbar zum 1. Jänner in Kraft. Einer gestern veröffentlichten Umfrage des Verbandes britischer Geschäftsführer zufolge sind drei Viertel aller Betriebe im Lande gänzlich unvorbereitet auf die kommenden Änderungen. Die meisten Geschäftsführer hoffen noch immer inständig, dass irgendeine Handelsvereinbarung mit der EU vor Ende des Jahres zustande kommt. Angesichts der bislang ergebnislosen Gespräche und der gezielten Vorbereitungen Londons auf einen harten Abgang schwindet die Zuversicht gegenwärtig aber rasch.
Große Fläche an der Küste gekauft
Unterdessen hat der heimliche Aufkauf eines elf Hektar großen Geländes beim Städtchen Ashford in Kent durch die Regierung in der Region zu Wochenbeginn beträchtliche Unruhe verursacht. Auf dem Gelände sollen 10.000 Lastwagen, die auf ihre Zollabfertigung warten, Platz haben. Auf den Straßen der Gegend – 30 Kilometer vor Dover – werden immense Staus erwartet. Insgesamt will die Regierung über 700 Millionen Pfund für neue Zollanlagen, entsprechende Computersysteme und 500 weitere Grenzbeamte im Königreich aufwenden.
Innenministerin Priti Patel bestätigte am Montag, dass es für Studenten und für dringend benötigte Arbeitskräfte aus der EU Sonderregelungen bei der Visa-Zuteilung geben soll. Generell werden aber „unqualifizierte“ Europäer, auf die kein Job mit einem Jahresgehalt von mindestens 25.600 Pfund wartet, künftig keinen Einlass mehr in Großbritannien finden. Zuwanderungswillige EU-Bürger werden ab 1. Jänner behandelt wie der Rest der Welt.
Nach dem Abgang aus der EU stehe es „uns frei, das volle Potenzial unseres Landes zu entfesseln“, hat Patel mehrfach stolz zu den neuen Immigrationsregeln erklärt. Mithilfe der jetzt angekurbelten Info-Kampagne sollten die Briten in die Lage versetzt werden, sofort „alles im Griff zu haben“, wenn sie nächstes Jahr zu einer „vollständig unabhängigen“ Nation würden, fügte der für die Brexit-Umsetzung zuständige Minister Michael Gove hinzu.
Brüssel bereitet sich ebenfalls vor
Monatelang waren die Verhandlungsteams im Corona-Modus und konnten nur per Video kommunizieren – bei einem ohnehin schon verfahrenen Thema ein weiterer Stolperstein. Es ging nicht nur nichts weiter, vielmehr drifteten Großbritannien und die EU von Mal zu Mal weiter auseinander. Vergangene Woche traf man sich wieder von Angesicht zu Angesicht: EU-Chefverhandler Michel Barnier nahm die Reise nach London auf sich und traf dort auf seinen Gegenpart David Frost.
Geholfen hat es nichts. Nach seiner Rückkehr stellte Barnier fest: „Wir werden weiter mit Geduld, Respekt und Entschlossenheit arbeiten. Die Diskussion in dieser Woche hat aber bestätigt, dass es zwischen Großbritannien und der EU noch sehr große Auffassungsunterschiede gibt.“ Auf beiden Seiten des Ärmelkanals sieht man die Ursache darin natürlich jeweils beim Gegenüber, doch alle Berichte der letzten Monate weisen in dieselbe Richtung. Das Vereinigte Königreich versuche immer wieder, neue Vorschläge einzubringen, die nicht in dem so mühsam ausgehandelten Austrittsabkommen enthalten sind – immer aus gutem Grund. Boris Johnson, so sieht man es in Brüssel, wolle immer nur den Vorteil für sein Land herausschlagen, ohne sich an die von ihm selbst unterzeichneten Bedingungen zu halten. Unterstellt wird dem britischen Premier, er lege es auf einen „No Deal“, also auf einen Ausstieg ohne Vertrag, an, um damit die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und seiner kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der EU in die Schuhe schieben zu können.
Am Ende spielt es wohl nur eine untergeordnete Rolle, wessen Schuld was war, das scheint auch Barnier im Sinn zu haben, wenn er sagt: „Ungeachtet dessen, was herauskommt – am 1. Jänner 2021 wird es unvermeidlich zu Veränderungen kommen.“ Die EU bringt deshalb ebenso wie das Königreich jetzt schon seine Truppen in Stellung. Im Vorschlag von Ratspräsident Charles Michel, den er diese Woche beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs präsentiert, ist erstmals ein „Polster“ in Höhe von fünf Milliarden Euro enthalten. Das Geld soll eigens für die Brexitfolgen bereitgestellt werden; Kritiker merken dazu an, es sei nicht nur für das besonders stark betroffene Irland, sondern auch für Belgien und im Besonderen für die Niederlande gedacht, die sich beim Finanzrahmen als Führungsmitglied der „sparsamen Vier“ besonders quergelegt haben.
Am Wochenende veröffentlichte die Kommission unter dem Titel „Bereit für Veränderungen“ ein Papier, das EU-Behörden, Unternehmen und auch die Bevölkerung auf eine harte Landung zum Jahreswechsel vorbereiten soll. Barnier: „Öffentliche Verwaltungen, Unternehmen, Bürger und Interessenträger werden von der Entscheidung Großbritanniens, die EU zu verlassen, betroffen sein.“ Auch für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist klar: „Die Abkehr von der EU bedeutet, dass sich unsere Beziehungen unweigerlich ändern werden, ganz gleich, wie hart wir jetzt auf ein enges Partnerschaftsabkommen hinarbeiten.“ Die Kommission beginnt nun mit der Überprüfung und Anpassung aller 102 Mitteilungen an Interessenträger, die während der Austrittsverhandlungen veröffentlicht wurden und von denen viele für das Ende des Übergangszeitraums nach wie vor von Belang sind. Optimismus sieht anders aus.