Herr Inzko, das Massaker von Srebrenica jährt sich zum 25. Mal. Hätte es vermieden werden können?
Valentin Inzko: Die Dimensionen sind andere, aber hätte man den Holocaust verhindern können? Außenminister Alois Mock hat damals UN-Sicherheitszonen vorgeschlagen, die funktioniert haben, aber nicht in Srebrenica. Die EU hatte 1995 noch keine gemeinsame Außen - und Sicherheitspolitik. Das holländische UN-Bataillon vor Ort war machtlos. Es bekam keine Unterstützung von außen. Es kam zum Völkermord mit über 8000 Opfern, darunter die hochschwangere Zekira Begić und ihr ungeborenes Kind. Die Mütter werden nie wieder ihre Söhne, ihre Kinder umarmen können. Das Geschehene kann nicht ungeschehen gemacht werden. Trotzdem ist die Geschichte von Srebrenica nicht abgeschlossen.
Wie offen ist die Wunde?
Es wurden 84 Massengräber und 257 Örtlichkeiten mit Überresten von Ermordeten identifiziert. Es fehlen aber noch Informationen über weitere 1200 Opfer. Noch schlimmer: Rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher werden verherrlicht. Dem zu lebenslanger Haft verurteilten Kriegsverbrecher Radovan Karadžić wurde ein Studentenheim in Pale gewidmet. Das ist eine Fortsetzung des Genozids und Salz in die offenen Wunden der Hinterbliebenen und Überlebenden von Srebrenica.
Immer mehr Stimmen behaupten heute, es sei kein Völkermord gewesen. Was erwidern Sie?
Niemand, kein Politiker, keine Kommission kann die Tatsache leugnen, dass Völkermord begangen wurde. Dies haben lokale und internationale Gerichte wiederholt festgehalten. Es gibt über eine Million Seiten an Unterlagen, Videoaufnahmen, Zeugenaussagen, darunter von vergewaltigten Frauen, aber auch einige wenige Geständnisse von Kriegsverbrechern. In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch betonen, dass es keine schlechten Völker gibt, aber sehr wohl individuell Schuldige.
Was lässt sich gegen Geschichtsfälschung unternehmen?
Man muss unbeirrt nach der Gerechtigkeit suchen, basierend auf der Wahrheit und auf Tatsachen, auf dem, was damals geschehen ist.
Warum fällt das so schwer?
Jedes der drei konstitutiven Völker sieht sich als Opfer, tatsächlich gab es solche auf allen Seiten. Man kann aber nicht alles auf eine Ebene stellen und behaupten, alle waren gleich. Ich bedaure jedes unschuldige Opfer, egal welcher Seite. Es könnte ein Ansatzpunkt sein, Stätten von unschuldigen Opfern gemeinsam zu besuchen. Drei Staatspräsidenten zusammen.
Warum geschieht es nicht?
25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu Willy Brandts Kniefall in Warschau. Und erst im Juni 1993 hat Kanzler Vranitzky in seiner historischen Rede in Jerusalem von der Mitschuld der Österreicher an den Gräueltaten der Nazis gesprochen und um Verzeihung gebeten. 48 Jahre nach dem Holocaust. Es braucht also Zeit und einen Vranitzky oder Brandt. Die werden aber nicht jeden Tag geboren.
Trauen Sie Bosniens Serbenführer Dodik keinen Kniefall zu?
Milorad Dodik könnte eine positive Rolle spielen, er hat 2007 den Genozid zugegeben. Er ist ein herausragender Politiker der Serben in Bosnien-Herzegowina und hätte die Autorität, diesen ersten Schritt zu tun. Er würde damit Geschichte schreiben, es wäre aber auch ein Befreiungsschlag für die Serben. Bedauerlicherweise spricht er lieber von der Unabhängigkeit der Republika Srpska und leugnet die Ereignisse in Srebrenica.
Sie sind nominell der mächtigste Mann in Sarajewo. Warum hegen Sie die Giftmischer des Völkischen wie Dodik nicht ein?
Einer meiner Vorgänger, Lord Ashdown, hat an einem Tag 49 Politiker entfernt, die den Friedensvertrag gebrochen, die Verfassung verletzt oder das Zusammenleben unter den Völkern erschwert haben. Diese Zeiten sind vorbei, so mancher Staatsbürger in Bosnien ist jedoch enttäuscht, dass ich keine ähnlichen Maßnahmen ergreife. Dieser Zustand ist für viele eine Erniedrigung und unerträglich. Derzeit gibt es jedoch im Friedensimplementierungsrat keine Unterstützung dafür. Man vertraut auf lokale Lösungen. Viele internationale Vertreter erwarten, dass die heimische Staatsanwaltschaft oder Gerichte die entsprechenden Schritte unternehmen.
Hat der Vertrag von Dayton die Gräben institutionalisiert?
Irgendwie wurden die Kampflinien von 1995 zur Kenntnis genommen, aber es ist mühselig, darüber zu diskutieren. Die drei wichtigsten Politiker der damaligen Zeit, Izetbegović, Milošević und Tuđman haben dem Dayton-Vertrag zugestimmt und nun gilt es, das Beste daraus zu machen, das Vertrauen zwischen den Völkern zu stärken.
Gehört Dayton durch ein neues Vertragswerk ersetzt?
Vor allem gehört Dayton modernisiert. Es ist ja überhaupt nicht verständlich, dass es in Bosnien-Herzegowina keine anerkannten Staatsbürger gibt. Anerkannt werden nur drei konstitutive Völker: Bosniaken, Kroaten und Serben. Obwohl es 16 Minderheiten gibt, Kinder aus gemischten Ehen oder Bürger, die im falschen Landesteil wohnen, kann diese große Gruppe für viele Ämter nicht kandidieren. Etwa ein Serbe aus Sarajevo oder ein Kroate aus Banja Luka. All das hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in mehreren Urteilen bemängelt, diese werden aber nicht umgesetzt. Wir brauchen weniger Dayton und mehr Brüssel.
Hat Europa in Bosnien versagt?
Europa hat zu viele ungelöste Probleme. Da bleibt keine Zeit für Bosnien. Ich bin Angela Merkel und Emmanuel Macron deshalb unendlich dankbar, dass sie den Annäherungsprozess zwischen Belgrad und Prishtina in Angriff genommen haben. Ich hoffe, dass dann Bosnien-Herzegowina drankommt. Das wäre im Interesse Europas. Wir müssen Stabilität exportieren, anstatt Probleme zu importieren.
Wie groß ist die Gefahr, dass Bosnien-Herzegowina zerfällt?
Das werden die Großmächte nicht zulassen. Und dazu wird es von meiner Seite nie eine Unterschrift geben. Das würde nicht nur den ganzen Balkan destabilisieren. Am Gedenktag von Srebrenica muss auch gesagt werden, dass dies einen gewaltigen Triumph für Radovan Karadžić darstellen würde und posthum auch für Slobodan Milošević. Genozid lohnt sich. Das kann die zivilisierte Welt einfach nicht zulassen.
Nicht nur in Bosnien gärt es. In Serbien reißen die Krawalle nicht ab. Was sind die Ursachen dafür?
Es gibt eine allgemeine Unzufriedenheit am ganzen Balkan. Es brodelt, zuletzt auch in Bulgarien, nicht weil die Menschen zu wenig zu essen hätten, sondern weil viele ohne Perspektiven leben. Vor allem wird die oft fehlende Rechtsstaatlichkeit bemängelt, die wuchernde Korruption, eine verantwortungsbewusste Regierungsführung. Deshalb ist Österreich so begehrt, deshalb wollen so viele nach Deutschland, um nichts anderes als ein „normales Leben“ führen zu können.
Treibt der Balkan unaufhaltsam zurück ins Chaos?
Nein, aber ich wünsche mir ein noch viel stärkeres Engagement der Europäischen Union. Ich rede da nicht von Mitgliedschaft, obwohl diese kommen wird. Aber in Südosteuropa sollten mehr als bisher europäische Werte gestärkt werden. Es geht um eine noch stärkere Präsenz in der Region, denn das ist unsere direkte Nachbarschaft. Geht es ihr gut, dann geht es auch uns besser, herrscht dort Friede, dann gibt es auch bei uns Friede. Der Balkan darf kein weißer Fleck auf Europas geografischen Karten sein.
Gibt es trotz allem auch Grund zur Hoffnung?
Absolut! Die „einfachen“ Menschen sind bereit, zu verzeihen und zusammenzuleben. Es gibt in Bosnien viele Nelson Mandelas, nur wird darüber wenig geschrieben.