Das oberste Verwaltungsgericht in der Türkei hat den Weg dafür freigemacht, die Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee umzuwandeln. Das Gericht annullierte am Freitag den Status der einstigen Kirche als Museum.
Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Hagia Sophia Eigentum einer von Sultan Mehmet II. gegründeten Stiftung sei. Der Sultan hatte die Hagia Sophia damals in eine Moschee umgewandelt. Laut Stiftung sei sie als Moschee definiert und dürfe nicht anders als zu diesem Zweck genutzt werden.
Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan darf das Gebäude somit für muslimische Gebete geöffnet werden. Die Hagia Sophia werde der Aufsicht der Religionsbehörde (Diyanet) unterstellt, erklärte Erdogan am Freitag via Twitter.
Scharfe Kritik an der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee kommt von der russisch-orthodoxen Kirche. „Die Sorgen von Millionen Christen wurden nicht gehört“, sagte Wladimir Legoida vom Moskauer Patriarchat laut Agentur Interfax in Moskau. „Die Gerichtsentscheidung zeigt, dass alle Forderungen nach Zurückhaltung ignoriert wurden.“ Nach mehr als 85 Jahren darf die Hagia Sophia wieder für islamische Gebete geöffnet werden. Das Palastbüro des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hatte die alte Streitfrage im Mai unerwartet wieder auf die nationale Agenda gehoben.
Meistbesuchte Touristenattraktion
Der mächtige Bau der Hagia Sophia – auf Griechisch „Heilige Weisheit“ – überragt die historische Halbinsel Istanbuls, ist als meistbesuchte Touristenattraktion der Türkei eine Goldgrube für den Staat und massiv mit Symbolik aufgeladen. Die Basilika wurde 537 zu byzantinischen Zeiten als größte Kirche der Christenheit errichtet, bei der Eroberung durch die Osmanen 1453 in eine Moschee umgewandelt, vom Gründervater der modernen türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, 1934 zum Museum erklärt und schließlich zum Unesco-Weltkulturerbe erhoben.
Islamische Fundamentalisten fordern seit jeher die Rückverwandlung des Sakralbaus in eine Moschee, denn sie betrachten ihn als steinernes Symbol des Sieges über die Christen.
Das wiederum alarmiert die orthodoxe Christenheit, deren Schutzmächte Griechenland und Russland sich provoziert fühlen, da die Hagia Sophia als wichtigste Kathedrale ihres Glaubens gilt. „Die mögliche Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee wird Millionen Christen auf der ganzen Welt gegen den Islam einnehmen“, wurde der Istanbuler Patriarch Bartholomäus I., geistlicher Anführer von weltweit 300 Millionen orthodoxen Christen, noch diese Woche von griechischen Medien zitiert. Er rief alle Türken dazu auf, die Regierung zur Beibehaltung des Status quo aufzufordern, denn das antike Bauwerk bringe „Menschen und Kulturen aus vielen Teilen der Welt zusammen“.
Doch für Präsident Erdogan war die Hagia Sophia eine Art letzte Trumpfkarte, um seine nationalistisch-frömmelnde Basis an sich zu binden.
Alle Trümpfe verspielt
Alle anderen religionspolitischen Trümpfe hat er in seinen 18 Regierungsjahren verbraucht. Das Kopftuchverbot in Behörden und Universitäten – aufgehoben. Verpönte islamische „Imam-Hatip-Schulen“ – zum Regelschultyp befördert. Die unterprivilegierten Geschäftsleute Zentralanatoliens – zur herrschenden Kapitalistenklasse aufgestiegen.
Nur die Hagia Sophia war immer noch ein Museum. Erdogan zog die Hagia-Sophia-Karte immer dann aus dem Ärmel, wenn er innenpolitisch stark unter Druck stand. Als sich vor den Kommunalwahlen im März 2019 eine Niederlage seiner islamischen Regierungspartei AKP abzeichnete, schlug er erstmals konkret vor, das hochsymbolische Bauwerk wieder für muslimische Gebete zu öffnen. Trotzdem verlor die AKP Istanbul, Ankara und andere Metropolen an die Opposition. Danach verschwand das Thema wieder aus den Nachrichten.
Seit diesem Frühjahr fordert nun die Corona-Pandemie den Präsidenten heraus. Die ohnehin schlingernde Wirtschaft steht noch mehr unter Druck, die AKP sackte in Umfragen auf 30 Prozent ab. Es war höchste Zeit, wieder mit der religiösen Öffnung der Hagia Sophia zu flirten, um „die Wählerbasis unter den durch die Covid-19-Pandemie verschärften wirtschaftlichen Turbulenzen intakt zu halten“, schrieb der bekannte Zeitungskolumnist Kadri Gürsel. Erdogan wolle von den ökonomischen Problemen ablenken und die säkularen Türken mit der Revision des Atatürk’schen Erbes provozieren.
Am 29. Mai, dem Jahrestag der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, hatte Erdogan bereits ein deutliches Signal gesendet. Ein Imam betete unter dem Kuppeldach der Hagia Sophia, der früheren Kathedrale, neben ihm hob der Staatschef auf einem Großbildschirm die Hände gen Himmel.
Frank Nordhausen aus Nikosia