Die aktuelle Situation sei "nicht würdig" für die EU, drängte der CSU-Politiker seine Amtskollegen, darunter Karl Nehammer (ÖVP), auf eine Einigung in dem Streit. Der deutsche Innenminister eröffnete als Ratsvorsitzender einen informellen EU-Ministerrat. Bisher nehme nur ein verschwindend geringer Teil der EU-Staaten gerettete Menschen auf, so Seehofer vor dem Treffen. Auch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson rief die Länder dazu auf, eine nachhaltige Lösung zu finden. Ihr zufolge soll die Frage der Seenotrettung auch Teil der Reformvorschläge der EU-Kommission für die europäische Asylpolitik sein. Diese werde sie im September vorlegen, sagte die Schwedin. Der Vorschlag sei "mehr oder weniger fertig".
Zuvor müssten sich die EU-Staaten jedoch auf die gemeinsamen Finanzen - unter anderem den Wiederaufbauplan nach der Corona-Krise - einigen. Seehofer will das Vorhaben dann bis Ende des Jahres vorantreiben - zu einem Abschluss der Asylreform werde es aber nicht reichen. "Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn wir in unserer Präsidentschaft zu den wichtigsten Punkten eine politische Verständigung erreichen könnten", sagte er am Dienstag.
Das funktioniert schon seit Jahren nicht. Der deutsche Chefdiplomat hatte sich zwar im September 2019 mit seinen Kollegen aus Malta, Italien und Frankreich auf eine Übergangsregelung verständigt, diese ist aber mittlerweile ausgelaufen. Zudem beteiligten sich nur wenige andere Länder wie Irland, Portugal und Luxemburg daran. Auch Österreich hat sich bisher strikt gegen die Aufnahme von aus Seenot geretteten Migranten ausgesprochen.
Nehammer bleibt beim eingeschlagenen Kurs
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) präzisierte den eingeschlagenen Weg: „Menschen, die in Seenot geraten, müssen gerettet werden. Die Rettung darf aber kein Ticket nach Mitteleuropa bedeuten. Denn dadurch machen sich immer mehr Menschen auf den Weg und immer mehr ertrinken.“ Eine automatische Verteilung von geschleppten Personen wäre kontraproduktiv, so Nehammer: „Das schafft Pull-Faktoren und erhöht den Druck für die EU-Staaten an der Außengrenze.“
EU-Außenbeauftragter Josep Borell hatte jedoch bereits mehrfach diesen „Pull-Faktor“ bezweifelt. Nehammer verwies hingegen auf die hohe Belastung Österreichs: „Seit 2015 hat Österreich mehr als 200.000 Asylanträge bewältigt und 110.000 Menschen Schutz gewährt. Unser Land ist daher weit mehr belastet als die meisten europäischen Länder.“ Man werde aber verstärkt mit Drittstaaten zusammenarbeiten: "Österreich wird Drittstaaten und die EU-Außengrenzstaaten weiterhin mit aller Kraft im Kampf gegen illegale Migration unterstützen“. Es sei wichtig, auch auf europäischer Ebene dieses Grundbewusstsein für die Situation in Österreich zu schaffen.
Nachdem Italien und Malta in der Corona-Krise erklärt hatten, den privaten Rettungsschiffen keinen sicheren Hafen mehr bieten zu können, entstanden an Bord immer wieder humanitäre Notlagen. Die Betreiber der "Ocean Viking" berichteten zuletzt von einem Hungerstreik und mehreren Suizidversuchen. Nach tagelangem Warten durfte das Schiff mit 180 Migranten an Bord am Montag schließlich vor dem Hafen von Porto Empedocle auf Sizilien anlegen. In der Nacht zum Dienstag verließen die Migranten das Schiff, um auf eine Quarantänefähre zu wechseln.
Angesichts solcher Vorfälle appellierte Seehofer an die gemeinsamen Werte der 27 EU-Staaten: "Wir sind ja nicht nur eine Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Und zu dieser Wertegemeinschaft gehört nach meiner Überzeugung, dass man Menschen vor dem Tod rettet." Man könne die Aufnahme der Menschen auf Dauer nicht südlichen EU-Ländern wie Italien oder Malta überlassen.
Reaktionen aus Österreich
Aus Österreich kamen dazu unterschiedliche Reaktionen. "Die EU hat nur dann eine positive Zukunft, wenn wir es endlich schaffen, eine langfristige Lösung in der Asyl- und Migrationspolitik, basierend auf Grund- und Menschenrechten, Solidarität und der Verantwortung aller Mitgliedstaaten, zu erzielen", ist die SPÖ-EU-Abgeordnete Bettina Vollath überzeugt. "Durch 'freiwillige Solidarität', an der sich nur einige wenige EU-Länder beteiligen, werden wir die Flüchtlingsfrage nicht lösen können", teilte sie mit.
Dass Seehofer erkannt habe, dass der Streit um die aus Seenot geretteten Flüchtlinge "einfach nur unwürdig" sei, begrüßte Vollath. "Leider fehlt diese Einsicht immer noch einigen - zu meiner großen Bestürzung nach wie vor auch der derzeitigen österreichischen Bundesregierung", fügte sie hinzu.
Für den FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl hingegen geht Seehofer "Illegalen und Schleppern auf den Leim". "Damit führt Deutschland Europa während seiner Ratspräsidentschaft offenbar wieder Richtung Willkommenskultur und Zwangsumverteilung von Illegalen quer über die EU-Staaten und erzeugt wieder eine Sogwirkung Richtung Europa", äußerte sich Kickl. Er erwartet von der Bundesregierung ein "klares Nein" und forderte erneut, dass Asylanträge in der EU nur mehr von Personen gestellt werden, die aus unmittelbaren EU-Nachbarländern stammen.
Für Monika Vana, Delegationleiterin der Grünen im Europaparlament, steht fest, dass Investitionen in den EU-Außengrenzschutz alleine die humanitäre Notlage im Mittelmeer nicht lösen. "Wir brauchen eine solidarische Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU", kommentierte sie und forderte die deutsche Bundesregierung auf, während ihrer Ratspräsidentschaft "eine grundlegende Reform des europäischen Asylsystems voranzutreiben".
Die EU als Friedensnobelpreisträgerin müsse sich "dringend ihre Verantwortung stellen und die Einhaltung die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention an den EU Außengrenzen garantieren". Dafür müsse jeder EU Mitgliedsstaat einen Beitrag leisten, so Vana.
Nur ein Bruchteil
Eigentlich macht die Zahl der Migranten, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden, nur ein Bruchteil der Asylbewerber aus, die jedes Jahr nach Europa kommen. Dennoch ist die Frage der Seenotrettung aus deutscher Sicht essenziell. Wenn die Verteilung der Aufgaben und Verantwortung für diese kleine Gruppe gelingen würde, könnte das ein Vorbild für eine Reform des gesamten Asylsystems werden, die schon seit Jahren nicht vorankommt, stellt Seehofer sich vor.
Seehofer jedenfalls will sich nach der Sommerpause vor allem auf die Lösung der Migrationsfrage in der EU konzentrieren. Er habe "den Ehrgeiz", bei dem seit Jahren umstrittenen Thema "einen großen Sprung" während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu machen, sagte er nach dem Treffen. "Bei mir ist nochmal ein richtiges Feuer heute entzündet worden", sagte der 71-Jährige nach den ersten Beratungen der EU-Innenminister unter deutschen EU-Vorsitz. Er wolle sich "mit allem, was ich zur Verfügung habe", der Migrationsfrage auf EU-Ebene widmen. "Das erfordert viel an persönlichen Gesprächen, an Reisen innerhalb Europas."
Aus Seehofers Sicht sind drei Punkte wesentlich: eine Asyl-Vorprüfung an den EU-Außengrenzen, die Rückkehr abgewiesener Antragsteller in ihre Herkunfts- oder Transitländer und Wege zur legalen Einreise in die EU. "Ohne eine Gesamtlösung werden wir das Problem nicht in den Griff bekommen", sagte Seehofer. Wenn man eine Regelung habe, werde auch die Akzeptanz aller EU-Staaten zur Aufnahme größer werden, weil die Zahl der zu verteilenden Flüchtlinge viel geringer wäre.
Mit Blick auf die Seenotrettung sagte Seehofer grundsätzlich: "Fast alle Mitgliedstaaten, in unterschiedlicher Form, sind da zur Solidarität bereit." Einige Minister hätten erklärt, ihr Land könne Kontrollschiffe, Personal oder Geld zur Verfügung stellen. Die Bereitschaft mitzumachen sei auch von Staaten gekommen, "von denen man das bisher nicht gehört hat", sagte Seehofer. "Es ist ein sehr, sehr dickes Brett, das wir hier zu bohren haben."