Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle in Rom ist das Werk eines zornigen Mannes. In einer atemberaubenden Kaskade ineinander verschlungener Leiber stürzen die Verdammten in die Hölle, während sich die Auserwählten mühsam aus ihren Gräbern emporkämpfen.

Doch für jene, die es ganz nach oben geschafft haben, ist das Drama noch lange nicht vorbei. Unter dem drohend erhobenen Arm des jugendlichen Auferstandenen geht der Kampf weiter, die Erlösung scheint unendlich fern.

Staunend steht Alexander Schallenberg an diesem drückend heißen Julitag vor dem berühmten Fresko. Der Besuch in der Sixtina bildet – gefolgt von einem Treffen mit dem Chefdiplomaten des Vatikans, Paul Gallagher – den Auftakt zu einer eintägigen Reise, die Österreichs Außenminister am Freitag nach Italien führte.

Das wogende Auf und Ab auf dem gewaltigen Wandgemälde kann dabei in einer profaneren Lesart durchaus als Sinnbild für die wechselhaften Beziehungen Österreichs zum südlichen Nachbarland herhalten, um die es seit einigen Jahren nicht wirklich gut bestellt ist: Erst waren es die Migrationsströme, die die wirtschaftlich eng miteinander verwobenen Länder entzweiten. Als Wien 2016 mit der Schließung des Brenners drohte und die Verteilung von Flüchtlingen nach fixen Quoten boykottierte, war die Empörung darüber in Rom groß. Dann erzürnte die türkis-blaue Vorgängerregierung die Italiener mit ihrer Doppelpass-Forderung für Südtiroler, die nicht einmal unterhalb des Brenners auf großes Echo stieß. Und nun, in der Coronakrise, sorgen die Grenzschließungen und die Debatte um die Position der „Sparsamen Vier“ gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden erneut für Verwerfungen.

Auch wenn Schallenberg vor den mitgereisten Journalisten die Verstimmungen bestreitet, ist er im Vorfeld seines Treffens mit seinem italienischen Amtskollegen Luigi Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung dann doch sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten. Seine Visite sehe er auch als „Akt der Anerkennung für das, was hier gelitten und geleistet wurde“, sagt der Außenminister und illustriert das Zusammenrücken infolge des Virus mit einem plastischen Bild: In der Coronakrise sei es „wie bei einem Wasserrohrbruch oder Brand“ gewesen, wo der Wohnungsnachbar plötzlich viel wichtiger werde. „Wir haben auf einmal wahrgenommen, wie abhängig wir auch vom kleinen Grenzverkehr sind.“

Tatsächlich hat sich bei vielen Italienern schon seit Längerem das Gefühl breitgemacht, zu den Verlierern der Gemeinschaftswährung Euro zu gehören. Schallenberg weiß um die Brisanz dieses Klimaumschwungs in einer der Gründernationen der EU und deutet im Ringen um den Wiederaufbaufonds wohl auch deshalb Beweglichkeit an. Dass es für strauchelnde Länder Hilfe geben müsse, sei unbestritten. Aber die vorgeschlagene Balance zwischen Zuschüssen (zwei Drittel) und Krediten (ein Drittel) „passt noch nicht“. Divergenzen mit „seinem Freund“ Schallenberg beim Wiederaufbaufonds räumt auch Italiens Außenminister Di Maio bei der gemeinsamen Pressekonferenz ein, ohne diese freilich zu präzisieren. Beide wägen die Worte mit der Goldwaage. Was jetzt zähle, sei, rasch einen Kompromiss zu finden, ist man sich einig.

Die Fronten sind also keineswegs so erstarrt, wie es scheint. Und schon gar nicht droht zwischen Wien und Rom ein Weltenende wie jenes in der Sixtina.