In Russland haben die Wähler den umstrittenen Verfassungsänderungen von Präsident Wladimir Putin mit großer Mehrheit zugestimmt und ihm damit über Jahre hinaus den Verbleib im höchsten Staatsamt gesichert. Bei einem Referendum stimmten 77,9 Prozent für die Gesetzesänderungen, wie die zentrale Wahlkommission am Donnerstag mitteilte.
Bereits im März hatte das Parlament die neue Verfassung verabschiedet, die Putin zwei weitere Amtszeiten nach dem eigentlichen Ende seiner Kreml-Zeit im Jahr 2024 erlaubt. Die Abstimmung wurde von Manipulationsvorwürfen überschattet. Der Kreml wertete den Ausgang des Verfassungsreferendums als "Triumph" für Putin. Die hohe Zustimmung für das neue Grundgesetz zeuge vom großen Vertrauen der Bevölkerung in Putin, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag der Agentur Interfax zufolge. "De facto hat ein triumphales Referendum über das Vertrauen in Putin stattgefunden."
Nach Angaben der Wahlkommission beteiligten sich knapp 68 Prozent der Wahlberechtigten an dem Referendum. Landesweit hatte die Regierung massiv für die Teilnahme an der nicht-bindenden Abstimmung geworben. Mit Nein stimmten 21,27 Prozent der Wähler, wie die Wahlleitung nach Auszählung der letzten Stimmzettel mitteilte. Demnach stimmten für die Verfassungsänderung insgesamt 57,7 Millionen Menschen. Das entsprach einem Anteil von 52,95 Prozent an den Wahlberechtigten.
Feiertag und Preisausschreiben
Um die Menschen in die Wahllokale zu bewegen, wurde der letzte Abstimmungstag des einwöchigen Referendums sogar zum Feiertag erklärt. Zudem gab es für die Wähler Preise zu gewinnen - darunter Eigentumswohnungen und Autos.
Mit der neuen Verfassung macht sich Langzeit-Machthaber Putin quasi zum Präsidenten auf Lebenszeit, denn er kann bei der nächsten Kreml-Wahl erneut kandidieren. Bisher sind dem Staatschef nur zwei Amtszeiten in Folge erlaubt, womit Putin 2024 aus dem Amt scheiden müsste.
Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung werden Putins bisherige Amtszeiten jedoch nicht mehr gezählt. Da die Amtszeiten jeweils sechs Jahre dauern, könnte er bis 2036 im Amt bleiben - Putin wäre dann 83 Jahre alt. Er trat den Posten als Präsident erstmals im Jahr 2000 an.
Der bekannte russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verurteilte das Referendum als "riesige Lüge". "Die 'Ergebnisse', die sie gerade verkündet haben, sind gefälscht", erklärte er. Sie hätten "nichts mit der Meinung der russischen Bürger zu tun". Nawalny hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen.
Hunderte Beschwerden
Die unabhängige Wahlbeobachtungsgruppe Golos berichtete von Hunderten Beschwerden über Verstöße gegen die Wahlfreiheit. Dem widersprach die Chefin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa. Im gesamten Wahlprozess seien "keine ernsthaften Verstöße" sichtbar geworden.
Teil der Verfassungsänderungen sind auch weitreichende Sozialreformen, darunter Garantien für bessere Mindestlöhne und Pensionen. Zudem soll eine Reihe konservativer Werte verankert werden, darunter die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau. Das würde homosexuelle Ehen im Ergebnis explizit verbieten.
Die Pensionistin Walentina Kungurzewa sagte der Nachrichtenagentur AFP vor einem Wahllokal in Wladiwostok, sie habe für die Verfassungsreform gestimmt. "Für uns Pensionisten ist es sehr wichtig, dass sie unsere Pension jedes Jahr erhöhen", sagte die 79-jährige. Mit der Klausel, die Putin weitere Amtszeiten ermöglicht, habe sie kein Problem: "Solange wir einen guten Präsidenten haben, ist das Leben gut." Dagegen sagte der 20-jährige Sergej Goritswetow aus St. Petersburg, er habe mit Nein gestimmt. "Ich hoffe, dass es viele von uns geben wird, aber ich weiß nicht, was es für einen Unterschied machen wird", sagte er.
Putin selbst gab seine Stimme am Mittwoch in der zum Wahllokal umfunktionierten Akademie der Wissenschaften in Moskau ab. Staatsmedien zeigten den Präsidenten im schwarzen Anzug und mit Krawatte - aber ohne Atemschutzmaske. Am Dienstag hatte Putin nochmals betont, die Verfassungsreform sei nötig, um die "Stabilität, Sicherheit und den Wohlstand" Russlands zu sichern.
Von Wladiwostok ganz im Osten des Landes bis zur Hauptstadt Moskau waren 110 Millionen Wahlberechtigte in elf Zeitzonen zur Abstimmung aufgerufen. Ursprünglich war der Termin des Referendums für Ende April angesetzt, er wurde jedoch wegen der Coronavirus-Pandemie verschoben und auf eine Woche ausgedehnt, um zu großen Andrang in den Abstimmungslokalen zu vermeiden.
Das Interesse der Menschen an der neuen Verfassung sei zwar vorhersehbar gewesen, meinte Kreml-Sprecher Peskow. "Aber natürlich war es sehr schwer zu prognostizieren, dass es so eine hohe Beteiligung geben wird und dieses höchste Niveau der Unterstützung, das mit dem heutigen Tag festgehalten wurde", sagte er.
EU verlangt Untersuchung
Die EU hat eine Untersuchung von Vorwürfen zu Unregelmäßigkeiten und Wahlmanipulation bei dem Referendum über die Reform der russischen Verfassung gefordert. Es gebe Berichte über die Nötigung von Wählern, doppelte Stimmabgaben, Verstöße gegen das Wahlgeheimnis und Polizeigewalt gegen einen Journalisten, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Donnerstag in Brüssel. Dies seien "ernsthafte Anschuldigungen", die "ordnungsgemäß untersucht" werden müssten.
Die EU bedauere auch, dass im Vorfeld der Abstimmung Wahlkampf nicht erlaubt gewesen sei, sagte der Kommissionssprecher. Damit sei den Wählern der Zugang zu ausgewogener Information über die weitreichenden Änderungen verweigert worden.
Der Sprecher kritisierte auch die Änderung von Artikel 79 der Verfassung, wonach die russische Verfassung über internationalen Verträgen steht. Dies werde durch die Venedig-Kommission des Europarats, dem Russland angehöre, als "nicht vereinbar mit Russlands internationalen Verpflichtungen" betrachtet. Die EU erwarte, dass Russland weiter seine internationalen Verpflichtungen einhalte, darunter die Verpflichtung, Urteile des beim Europarat angesiedelten Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) umzusetzen.