Wer denkt, es handle sich bei dem, was als „jüdische Siedlungsblöcke“ bezeichnet wird, um ein paar schmuddelige Baracken auf staubigem, palästinensischem Land, der irrt. Gusch Etzion, Efrat oder Maaleh Adumim bei Jerusalem haben mit dieser Vorstellung wenig gemein. In den modernen Apartmenthäusern mit blühenden Vorgärten wohnen Zehntausende von Israelis, die in der Früh in ihre Toyota-Hybridautos steigen und zur Arbeit ins Büro fahren.
Jene Blöcke, das meint zumindest Jerusalem, würden sogar im Fall einer Zweistaatenlösung Israel zugesprochen. Die Befürworter der angekündigten Annexion sehen das so wie der rechtskonservative Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.Oded Revivi, Vorsitzender der Siedlungsblöcke Efrat und Gusch Etzion, meint, der Premier sei mit seinem Vorhaben zum besten Freund der Siedler avanciert. „Er hat erreicht, wovon wir nicht einmal zu träumen gewagt haben.“
Dabei kann Revivi gar nicht wissen, was Netanjahu erreicht hat. Denn der spricht nicht mehr darüber und will sich auch nicht festlegen, um welche Gebiete es am Stichtag gehen soll. Eigentlich will die israelische Regierung auf Grundlage des amerikanischen Plans bis zu 30 Prozent des palästinensischen Westjordanlands annektieren. Gemäß dem Koalitionsvertrag könnten erste Schritte am 1. Juli beginnen. Die Palästinenser lehnen den Plan ab und werfen Washington vor, einseitig zugunsten Israels Partei zu ergreifen. Palästinensische Gruppen drohen mit einem „Tag des Zorns“.
Vor einigen Wochen noch präsentierte Netanjahu eine Karte, die detailliert zeigte, dass es ihm zunächst um das Jordantal geht, den Korridor zwischen den Palästinensergebieten und dem Nachbarn Jordanien. Jetzt aber gibt er sich ausweichend und wiederholt sein Mantra: „Reden schadet der Annexion.“
Mittlerweile wird gemunkelt, dass das Jordantal vorerst nicht mehr zur Debatte steht. Stattdessen wolle Netanjahu einige größere Siedlungsblöcke wie Maaleh Adumim und Gusch Etzion unter israelisches Zivilrecht stellen. Dabei wäre Umfragen zufolge sogar die Mehrheit der Israelis auf seiner Seite. Die einstige Justizministerin der Rechtsaußenpartei Jamina, Ajelet Schaked, bestätigte das in einem Interview: „Netanjahu hat das Jordantal wegen der Opposition der arabischen Staaten aufgegeben.“
Arabische Opposition gegen Annexion
Diese Opposition ist mittlerweile unüberhörbar. „Wir möchten glauben, dass Israel eine Chance ist, kein Feind“, stand vor einigen Tagen in einer israelischen Tageszeitung geschrieben. Überraschende Worte eines arabischen Außenministers. Sie kommen von Yousef al Otaiba, Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) in den USA, persönlich. Der Artikel wird nicht nur als letzter Aufruf an die Israelis und ihre Regierung gewertet, von einer Annexion Abstand zu nehmen, sondern auch als einer an US-Präsident Donald Trump.
Der hatte zwar in seiner Initiative „Deal of the Century“ eine Annexion beschrieben, allerdings im Rahmen eines Gesamtabkommens, das ultimativ zu einem eigenen Staat für die Palästinenser führen soll. Angeblich hat sich Trumps Schwiegersohn und Berater Jared Kushnerderweil ebenfalls gegen eine unilaterale Entscheidung Israels ausgesprochen. Der israelische Außenminister Gabi Aschkenasi bestätigte, dass es in dem US-Plan keinerlei Karten oder Ähnliches gebe, sondern es sich um ein „reines Konzept“ handele.
Weiter schreibt Außenminister al Otaiba in seinem Artikel: „Wir sehen uns zu vielen gemeinsamen Gefahren ausgesetzt und auch ein riesiges Potenzial darin, wärmere Beziehungen zu haben. Eine Entscheidung zur Annexion würde allerdings ein unmissverständliches Zeichen sein, ob Israel diese Dinge genauso sieht.“
Damit lässt der Diplomat wissen, dass sich die Verbindungen mit den moderaten arabischen Staaten schnell wieder auf dem Gefrierpunkt befinden könnten.
Mittlerweile deutet sogar Netanjahus Koalitionspartner, Verteidigungsminister Benny Gantz (Blau-Weiß), an, dass eine Annexion aufgeschoben werden könne. „Der 1. Juli ist kein heiliges Datum. Alles, was nichts mit dem Kampf gegen Corona zu tun hat, muss warten.“ Netanjahu konterte, dass Blau-Weiß in dieser Frage „nichts zu sagen“ habe. Man befinde sich schließlich in diskreten Gesprächen mit den Amerikanern.
Ob es die intensive internationale Kritik, der Mangel an Unterstützung aus Washington, die Uneinigkeit innerhalb seiner Koalition oder der Druck der gemäßigten arabischen Staaten ist, sagt er nicht. Netanjahu lässt sich nicht in die Karten schauen – und die Welt unruhig auf seine Entscheidung warten.
unserer Korrespondentin Sabine Brandes aus Tel Aviv