All die schönen Ministertreffen mit etwas Pomp und Trara für die Bevölkerung, ein Gipfel in historischer Kulisse, ein halbes Jahr im Glanz des europäischen Scheinwerferlichts – das alles blieb Kroatien verwehrt.Das Land, das mit heutigem Tag die Stafette der EU-Ratspräsidentschaft an Deutschland übergibt, wurde vom Corona-Tsunami – so wie alle anderen – kalt erwischt. Die Krise brach mit voller Wucht über die EU und die Welt herein und die eigentliche Idee so eines Vorsitzes (siehe unten) verkam zur Randnotiz.
Doch mit heutigem Tag ist wieder alles anders, es verkehrt sich gewissermaßen sogar ins Gegenteil. Deutschland ist dran, die mit einer jährlichen Wirtschaftsleistung von 3,5 Billionen Euro mit Abstand mächtigste Nation der EU. Der deutsche Motor soll jetzt den Karren mit vollem Schub aus dem Dreck ziehen und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Steuer ist die Person, der man die Verantwortung dafür umhängt. Merkel ist seit 15 Jahren an der Spitze der Regierung und gerade dabei, ihre letzte Runde im Amt zu drehen – ob das nächste halbe Jahr zur Krönung ihrer Karriere gereicht oder ob auch sie nicht verhindern kann, dass Europa mit voller Kraft voraus gegen die Wand fährt, wird man später in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Fest steht: Die Herausforderungen sind enorm. „Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Ratspräsidentschaft schon einmal so mit Erwartungen und Themen konfrontiert war“, stellte SPD-Europapolitiker Udo Bullmann fest.
Dementsprechend ist das Arbeitsprogramm eine Art „Best of Krise“ und so umfangreich, dass einem schwindlig werden könnte. Der Vorsitz steht unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“. Hauptthema ist natürlich die Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen. Dazu kommen Klimawandel, Flucht und Migration, Rechtsstaatlichkeit und Digitalisierung.Nicht zu vergessen der Brexit.
„Wir wollen diese Erwartungen erfüllen, indem wir uns dafür einsetzen, dass wir alle zusammen gut aus der Krise herauskommen und wir Europa gleichzeitig auf die Zukunft vorbereiten“, läutete Merkel am Wochenende das Mammutprogramm ein. Es sei eine Schlüsselaufgabe, Europa nach außen handlungsfähiger zu machen, als EU geschlossen und einheitlich aufzutreten, gerade auch in den Beziehungen zu strategischen Partnern wie Russland, der Türkei, China und den USA.
Deutschlands spektakulärer Sinneswandel
Was die Ratspräsidentschaft so außergewöhnlich macht, ist nicht nur das Zusammentreffen all der Mega-Probleme, sondern die überraschende 180-Grad-Wende Deutschlands bei der Haltung zum Wiederaufbauprogramm der EU. 750 Milliarden Euro sollen über die EU-Kommission am Finanzmarkt aufgenommen und zwei Drittel dieser Summe als nicht rückzahlbare Zuschüsse vergeben werden. Zunächst war auch Merkel zurückhaltend gewesen, nach einem Gespräch mit Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron hatte sie sich aber klar für diese Lösung ausgesprochen – im Gegensatz zur Nettozahler-Allianz der „Sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark), die nur Kredite ausgeben wollen und auch bei den Beiträgen zum EU-Budget auf einem Prozent beharren. „Ich arbeite dafür, auch diese Länder zu überzeugen“, sagte Merkel in einem SZ-Interview. Eine Gelegenheit dazu gibt es in zwei Wochen beim EU-Sondergipfel, bei dem man sich in höchster Zeitnot auf den neuen EU-Haushalt und die Details des Aufbaufonds einigen will; dass es dabei tatsächlich schon zu einer Einigung kommt, das zweifelt inzwischen selbst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, die zuletzt von der Möglichkeit eines zweiten Sondergipfels (dieser dann im August) sprach.
Es geht bei Italien auch um das große Ganze
Die Bereitschaft zur multilateralen Zusammenarbeit und zum Suchen nach gemeinsamen Antworten auf Krisen habe deutlich abgenommen, konstatierte Merkel. „Der Ton ist international zurzeit rau.“ Man müsse alles daransetzen, nicht in Protektionismus zu verfallen. So ist die Befürwortung der Zuschüsse auch als Entspannungssignal an Italien zu werten, wo sich am Höhepunkt der Krise eine Mehrheit gegen die EU gestellt und Deutschland als Feindbild ausgemacht hatte.
Gleichzeitig warnen Beobachter davor, die Ratspräsidentschaft überzubewerten. An sich sieht das Protokoll vor, dass das jeweilige Vorsitzland seine eigenen Interessen hintanzustellen hat. Das wird für Merkel zu einer speziellen Gratwanderung. Dazu kommt noch, dass auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Deutsche ist, die noch dazu die Schatten ihrer Vergangenheit – dubios erscheinende Beraterkonstruktionen aus ihrer Zeit als Verteidigungsministerin – noch längst nicht abgeworfen hat. Das erzeugt Argwohn.
Einer der geplanten Höhepunkte des zweiten Halbjahres, der EU-China-Gipfel im September, wurde mittlerweile abgesagt. Wegen Corona, wie es hieß, wohl aber auch, weil die Beziehungen der EU zu China derzeit besonders schwierig sind. Für Angela Merkel könnten die nächsten sechs Monate über ihren Platz in der Geschichte entscheiden. Für die gesamte EU bedeuten sie eine in dieser Form noch nie da gewesene Belastungsprobe.
unserem Korrespondenten Andreas Lieb aus Brüssel