Am Tag danach machte sich Horst Seehofer ein Bild von der Lage . Von einem „Alarmsignal für den Rechtsstaat“ sprach der deutsche Innenminister und mahnte „harte Strafen“ an. Ansonsten herrschte Ratlosigkeit in Stuttgart.
Die Polizei hatte dort in der Nacht zu Sonntag einen 17-Jährigen auf Drogen kontrolliert. Daraufhin war die Situation eskaliert. Hunderte Jugendliche „aus der Partyszene“ (Stuttgarts Polizei-Vizepräsident Thomas Berger) hatten „die Beamten mit Steinen und Flaschenwürfen attackiert“. Danach zogen sie in Kleingruppen durch die Stadt und plünderten Geschäfte. Die Bilanz: 19 verletzte Polizisten, 24 Festnahmen, „darunter zwölf mit deutschem Pass und sieben Minderjährige“, so die Polizei. Vereinzelt hätten Angreifer „Allah Akbar“ gerufen. Doch haben viele der geschädigten Ladenbesitzern Migrationshintergrund.
Die Eruption der Gewalt überraschte alle. Der Stuttgarter Streetworker Simon Fregin versuchte es mit einer Erklärung. Politische Orientierung spiele keine Rolle. Es gehe um die Frage: „Wo will ich hin? Hab ich ein konkretes Ziel?“
Das Ziel stand in Stuttgart für junge Menschen lange fest. Nach der Schule ging es zu Daimler, Bosch oder Porsche. In der Stadt herrscht Fachkräftemangel. Noch. Die Autoindustrie steckt im Umbruch. Die Elektromobilität verschiebt Wertschöpfungsketten. Wo heute schwäbische Tüftelkunst und Arbeitskraft im Motorblock stecken, surren künftig billige Zahnräder. Das Geld steckt in der Batterie. Die aber kommt aus Asien. „Das Auto wird auch in Zukunft eine zentrale Rolle in der Mobilität spielen, aber es wird anders sein. Das klassische Geschäftsmodell Auto wird angegriffen“, sagt der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir zur Kleinen Zeitung.
Wird Stuttgart zum Little Detroit am Neckar?
Stuttgart zählte zu den Hochburgen der Corona-Proteste. Treibt eine Mischung aus Corona-Wut, pubertärer Langeweile und Sorge vor der Zukunft die Wütenden? Der Regisseur Ladj Ly drehte im Vorjahr den Film „Les Misérables“ über die Pariser Vorstadtjugend. Stuttgart ist anders, aber auch hier herrscht Frust. „Es ist eine Demütigung“, erklärte Ly den jugendlichen Unmut über Kontrollen.
Nächstes Jahr wird in Baden-Württemberg gewählt. Nur zu gerne würde die Union Ministerpräsident Winfried Kretschmann ablösen. Noch aber ist der Grünen-Übervater unangreifbar. So startet die Union eine Polizeidebatte. In der linken „taz“ hatte in der Debatte um George Floyd eine Kolumnistin der Polizei einen „Fascho-Mindset“ unterstellt. Die Empörung war groß. Seehofer stellte Strafanzeige.
Die Polizei stand schon immer für den Staat. Auch gegen die Besatzung von Feuerwehrautos und Krankenwagen wird gerüpelt. Sie verkörpern ein System, das Jugendliche nur durch die Schule kennen und für viele nur Bildungsfrust produziert. Nicht nur im Ländle. In Dietzenbach, einer Schlafstadt von Frankfurt, lockten Jugendliche die Polizei in einen Hinterhalt. „Aus ökonomischen Krisen können politische Krisen erwachsen“, sagte der Historiker Jan Vogler der „FAZ“. Er sprach über die Nachwehen der Pandemie. Noch ist Corona nicht vorbei. Aber die Unruhe wächst.
Deutschlands Fettfleck
Schauplatzwechsel. Clemens Tönnies sieht es so: „Fleisch ist nicht nur Teil einer gesunden Ernährung, Fleisch macht auch Spaß“, sagt der Wurstfabrikant. In seiner Heimat rund um Bielefeld sehen die Menschen das derzeit anders. Mehr als 1300 der 7000 Schlachterei-Beschäftigten sind an Corona erkrankt. Nach einer Infektionswelle in Tönnies’ Betrieb droht der ganzen Region der Lockdown. Die Testreihen laufen noch, die Produktion ruht. Auch die Schulen sind geschlossen. Vorsorglich.
„Deutschlands Fettfleck“, nennt Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU), ein Enkel des Kanzlers, seine Region. Das bezieht sich nicht nur auf die Fleischwirtschaft. Die Gegend ist Heimat vieler Weltmarktführer. Elektrogerätehersteller Miele hat ebenso seinen Sitz in Bielefeld wie der Lebensmittelkonzern Dr. Oetker. Das Verlagshaus Bertelsmann ist im nahen Gütersloh beheimatet. Die Arbeitslosenquote in Nordrhein-Westfalen liegt bei vier Prozent. Werte, wie sie nur Bayern und Baden-Württemberg kennen.
Tönnies, Sohn eines Metzgers, hat sich nach oben gearbeitet. Auf eine Milliarde Euro wird sein Vermögen geschätzt. Doch Tönnies’ Ansehen sinkt. Die Wohnblocks der infizierten Arbeiter stehen unter Quarantäne. Die Beschäftigten stammen überwiegend aus Polen, Bulgarien und Rumänien. Angeheuert über Subfirmen, schuften sie zu skandalösen Löhnen. Von sechs, sieben Euro pro Stunde berichten ehemalige Mitarbeiter. Der Trick: Die Zerleger gelten als Selbstständige, Mindestlöhne werden gezielt unterlaufen, etwa durch Abzüge für Arbeitskleidung oder angebliche Versäumnisse.
Die Coronawelle wirft nicht nur ein Licht auf Tönnies’ Geschäftsgebaren. Dieses sagt auch viel über Deutschlands Arbeitsmarkt. Seine Exportstärke ist auch erkauft über billige Arbeitskräfte aus Osteuropa. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) beschwichtigt. Man müsse ein Übergreifen auf die „Bevölkerung“ verhindern, sagte er. So, als handle es sich bei Tönnies’ Mitarbeitern aus dem Osten nicht um Menschen. Tönnies, im Nebenberuf Aufsichtsratschef beim Fußballklub Schalke 04, geriet schon im Vorjahr wegen rassistischer Äußerungen in Verruf.
Längst fürchten Experten ein Übergreifen des ostwestfälischen Hotspots auf andere Gebiete in Deutschland.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will zumindest für die Fleischindustrie ab 2021 Mindestlöhne festschreiben. Aber auch nicht viel mehr. Sein Ministerium arbeitet an der Umsetzung der EU-Entsenderichtlinie. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“, lautet der europäische Grundsatz. Heil versucht, das zu unterlaufen. Gleichen Lohn für Arbeiter aus Osteuropa soll es nur bei bundesweiten Tarifverträgen geben. Viele Regelungen gelten aber regional. Europas Exportchampion setzt weiter auf Sozialdumping und billige Arbeitskraft aus Osteuropa. Ein bisschen Tönnies ist überall in Deutschland.
unserem Korrespondenten Peter Riesbeck aus Berlin