Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, hat die EU-Staaten vor einem Scheitern der Verhandlungen zum Corona-Hilfspaket gewarnt. Die bisherige Antwort der EU auf die Krise habe Zeit gewonnen und den Weg für einen Aufschwung bis Jahresende geebnet, sagte Lagarde nach Angaben aus EU-Kreisen beim Video-Gipfel der Staats- und Regierungschefs.
Die Märkte hätten positiv darauf reagiert, aber ein Scheitern könne dies umkehren. In ihrem Wirtschaftsausblick sagte die Französin demnach, die EZB rechne im zweiten Quartal mit einen Rückgang von 13 Prozent der Wirtschaftsleistung. Über das Jahr gesehen sei ein Rückgang von 8,7 Prozent zu erwarten. Das Niveau von vor der Krise könnte demnach bis Ende 2022 erreicht werden. "Allerdings stehen die schlimmsten Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte noch bevor", sagte Lagarde demnach.
Positionen vorerst unverändert
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe, so sickerte durch, darauf beharrt, dass - wie von der EU-Kommission vorgesehen - 500 Milliarden der EU-Coronahilfen als Zuschüsse verteilt werden, hieß es weiter. Dem Vernehmen nach verlangte Macron eine Einigung über das gesamte Paket bis September.
Der niederländische Premier Mark Rutte forderte nach Angaben von Diplomaten andere Kriterien für die Zuteilung der Hilfen. Er wandte sich insbesondere dagegen, die Arbeitslosenzahlen von 2015 bis 2019 heranzuziehen, sondern verlangte diesbezüglich neue Vorschläge von der EU-Kommission. Auch der tschechische Premier Andrej Babis habe sich ähnlich geäußert, hieß es weiter.
Für die "Sparsamen Vier" - die Nettozahler-Allianz von Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark - habe der schwedische Premier Stefan Löfven gesprochen. Dem Vernehmen nach verlangt er neuerlich, dass die Corona-Wiederaufbauhilfen der EU als Kredite und nicht als Zuschüsse vergeben werden.
Industrielle für eine Stärkung der EU
Am Rande des Gipfels hat nun das neue Präsidium der Industriellenvereinigung ein deutliches Bekenntnis zur Stärkung der EU abgegeben. Der sogenannte Recovery Plan, der beim heutigen EU-Gipfel verhandelt wird, sei genau wie das Motto Next Generation EU "wesentlich", sagte Vizepräsidentin Sabine Herlitschka. Ein Bremser, wie Kritiker monieren, sei Österreich hierbei nicht, so IV-Präsident Georg Knill. Hilfsgelder gehörten aber an Reformen geknüpft. "Österreich ist erfolgreich mit einem starken Europa. Und das wird in Zukunft noch mehr so sein", hielt Herlitschka ganz grundsätzlich fest.
EU-Ratspräsident Charles Michel appellierte an das Verantwortungsbewusstsein der Staats- und Regierungschefs. "Wir haben eine kollektive Verantwortung zu erfüllen", twittert der Belgier. Nun sei die Zeit gekommen, um sich zu engagieren. Laut dem kroatischen EU-Ratsvorsitz unterstützt die Mehrheit der EU-Länder den Vorschlag der Kommission, "weil sich zeigt, dass in Umständen, die wie in den letzten siebzig Jahren nicht gesehen haben, die Europäischen Union hinter ihren Bürgern steht", wie der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenkovic sagte.
Kurz deutet Kompromisse an
Vor dem EU-Videogipfel zum Wiederaufbau und zum EU-Mehrjahresbudget hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Kompromissbereitschaft signalisiert. Er hoffe, dass es bereits bei einem weiteren physischen Treffen der Staats- und Regierungschefs im Juli eine Einigung gebe, sagte er in Wien. Ob dies gelinge, hänge wesentlich von der Vorbereitung ab. Bereits heute hoffe er auf eine Annäherung.
Kurz betonte, die EU-Hilfen müssten in Bereiche zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit wie Ökologisierung und Digitalisierung und nicht in "rückwärtsgewandte Investitionen" fließen. Kurz erteilte insbesondere Ideen zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens oder von Reisegutscheinen oder zur Bankenrettung eine Absage. Zum Verhältnis Kredite und Subventionen wollte sich der Kanzler nicht in die Karten schauen lassen. "Es ist ein Gesamtpaket."
Drei Punkte seien ihm wichtig, betonte Kurz. Der Recovery Fonds (Aufbaufonds, Anm.) müsse eine "einmalige Aktion" und "zeitlich befristet" sein und dürfe "kein Einstieg in die Schuldenunion durch die Hintertüre" sein. Dass Anträge bis 2024 gestellt werden könnten, sieht Kurz kritisch, dies falle nicht mehr unter schnelle Soforthilfe.
Zweitens stellt sich laut dem Kanzler die Frage, wer zahle, und, damit verbunden, das Verhältnis zwischen Krediten und Zuschüssen. Drittens müsse auch klar sein, wohin, dass Geld fließe und zu welchen Bedingungen, auch in Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit.
Nach dem Gipfel sagte Kurz, es solle vor allem in Zukunftsbereiche wie Digitalisierung oder Ökologisierung investiert werden: „Die Bereitstellung der Mittel sollte von Reformen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit abhängig gemacht werden. Auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist von großer Bedeutung für uns. Es braucht zudem Investitionen in die Forschung an Impfstoffen oder einem Medikament, um eine zweite Welle zu verhindern.“ Ähnlich äußerte sich auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in einem Pressegespräch nach dem Gipfel von einem ebenso „grünen wie digitalen“ Zukunftsinstrument sprach, dabei handele es sich um die „Antriebselemente“ für eine Modernisierung der EU.
Der Bundeskanzler blieb im Übrigen dabei, an günstigen Krediten anstelle von Zuschüssen festzuhalten: Er werde sich weiterhin mit eng mit den Premierministern der Niederlande, Dänemarks und Schwedens abstimmen. Die Videokonferenz sieht Kurz als Startpunkt für lange Verhandlungen, denn es gebe noch viel Diskussionsbedarf.
Dem Vernehmen nach gab es bei der Konferenz auch von anderen Ländern Kritik an der Dauer des Pakets (es sollte demnach auf Ende 2022 und nicht, wie vorgeschlagen, auf 2024 befristet sein) und an den Allokationskriterien, die sich auf „alte“ Arbeitsmarktdaten beziehen. EZB-Chefin Christine Lagarde hatte am Beginn des Gipfels einen düsteren Überblick über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise gegeben, hatte aber auch darauf verwiesen, dass sich die Wirtschaft bis Ende 2022 durchaus wieder erholt haben könnte.
Karas und sein Vorschlag an die Kommission
Kaum hatte der Gipfel begonnen, lud übrigens Othmar Karas (ÖVP), Vizepräsident des EU-Parlaments, zu einem Pressegespräch, in dem er seine – von der offiziellen Regierungslinie abweichenden Argumente -darlegte. Er habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen, alle EU-Kommissare auf Info-Mission in ihre Herkunftsländer zu schicken: „So können unnötige Ängste genommen, Widersprüche aufgelöst und bewusste Irreführungen entlarvt werden“, sagt Karas. Bei den Gegnern des Aufbauplanes würden vielfach unnötige Forderungen gestellt, die im Vorschlag längst enthalten seien: Beitragsrabatte werden nicht abgeschafft, Auszahlungen sind an Bedingungen geknüpft und der Fonds ist befristet. Karas: „Das Schattenboxen muss aufhören.“ Der langjährige EU-Abgeordnete betonte, er sei „sehr kämpferisch aufgelegt“, aber nicht, um zu personalisieren, sondern um zu politisieren: „Schwarz-weiß-Denken ist, auch bei den Medien, immer populärer als der Kompromiss. Damit bringt man jede Debatte um.“ Karas hatte erst am Tag davor darauf hingewiesen, dass der EU jedes Jahr allein durch Steuerflucht, Steuervermeidung und Steuerbetrug bis zu 825 Milliarden Euro entgehen – mehr als das ganze Corona-Wiederaufbauprogramm hat.
"Wer verzögert, verwässert oder gar blockiert, macht sich schuldig an der nächsten Generation", mahnte Karas in dem Pressegespräch. Der Wiederaufbau ist seiner Ansicht nach "im Interesse jedes Staates und jeder Region", sagte er und nannte Österreich als einen der "Hauptprofiteure einer zukunftsfähigen und wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaft" unter Verweis auf die heimische Exportorientierung. Wenn Spanien und Italien "krank" blieben, greife das Virus auch andere Länder an, warnte der EU-Mandatar. Die Vorsitzenden der großen Fraktionen im Europaparlament hatten sich bereits am Donnerstag in einem Brief an die Gipfelteilnehmer gewandt. Darin hieß es, 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an die EU-Staaten seien das absolute Minimum, wenn die europäische Antwort auf diese riesige Krise glaubwürdig sein solle.
Blümel auf hartem Kurs
Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) hält an seiner Position gegenüber dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Aufbaufonds zur Bewältigung der Coronakrise fest. "Wir sind immer zu Verhandlungen bereit, wir können jedoch diesen Plan nicht akzeptieren. Die österreichischen Steuerzahler würden dafür zu viel und zu lang zahlen", sagte er der italienischen Tageszeitung "La Stampa" (Freitagsausgabe).
"Brüssel will glauben lassen, dass die Hilfen kostenlos sind, aber das ist nicht so. Wir alle werden 30 lange Jahre diesen riesigen Schuldenberg abzahlen müssen", so der Finanzminister im Interview. "Wir Europäer müssen mit Ländern in Schwierigkeiten solidarisch sein, wir können aber nicht ausgerechnet jetzt auf die wichtigen Prinzipien der Union verzichten. Nun Geld auf Kredit auszugeben und die Rechnung auf die Zukunft verschieben, ist nicht seriös", sagte Blümel.
Er bekräftigte, dass Österreich bereit sei, anderen Ländern zu helfen. "Was wir ablehnen, ist ein Europa der Schulden", meinte der Minister. Österreich gehöre zu den stärksten Nettozahlern der EU. "Solidarität ist keine Einbahnstraße, auch für sie müssen die europäischen Regeln gelten. Nach der Coronakrise ist ein neues Engagement für gesunde Haushaltspolitik und eine Schuldensenkung notwendig. Daher müssen auch die im Rahmen des Wiederaufbauplans vorgesehenen Finanzierungen zeitlich befristet sein", sagte der Minister.
"Unser gemeinsames Ziel sollte die Stärkung der Wirtschaft jener Länder sein, die von Hilfen profitieren, damit sie besser einer möglichen weiteren Krise Stand halten können", so Blümel. Jedes Land ist seiner Ansicht zufolge nach Corona mit seinen eigenen Herausforderungen konfrontiert.
"In der ganzen EU stehen Gesundheit, Beschäftigung und Zukunft der Unternehmen auf dem Spiel. Nach der Krise ist ein europäischer Einsatz für mehr Haushaltsdisziplin notwendig. Daher ist es mehr denn je wichtig, dass Hilfsgelder in Richtung Investitionen für die Zukunft und Wettbewerb statt zur Deckung der Schulden der Vergangenheit fließen", so der Minister.
Das 750 Milliarden Euro schwere Paket
Das geplante Konjunkturprogramm der EU-Kommission sieht zur Bewältigung der Folgen der Pandemie und für einen wirtschaftlichen Aufbruch einen kreditfinanzierten 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds und ein auf 1,1 Billionen Euro aufgestocktes EU-Budget als notwendig an. Laut den Plänen der EU-Kommission sollen mit den neu auf dem Kapitalmarkt aufgenommenen Geldern nicht alte Schulden der EU-Mitglieder bedient werden, sondern die Mittel ausschließlich in den Wiederaufbau fließen und die Gesundheitssysteme stützen.