"Nein, der Berg ruft nicht“, urteilt Reinhold Messner. „Er ist da.“ Als erster Mensch hat Messner alle 14 Achttausender bestiegen und dabei auf künstlichen Sauerstoff verzichtet. Das Hinaufsteigen war für ihn immer attraktiver als unten zu sein. Er durchquerte aber auch die Antarktis, Grönland und die Wüste Gobi. Nur schwimmen kann er immer noch nicht. Wozu auch, er liebt die Berge.
Ihr Buch „Rettet die Berge“ ist ein flammendes Plädoyer gegen den Zeitgeist, der das Dach der Welt, aber auch andere Berge, dem Massentourismus opfert. Ist es nicht noch wahrscheinlicher, dass im Coronajahr in den Bergen der Bär los ist?
REINHOLD MESSNER: Schon in den ersten Tagen, als es möglich war, diese Hotspot-Orte im Gebirge wieder zu besuchen, war alles überlaufen. Die Menschen rotteten sich zusammen und kümmerten sich nicht um Abstandsregeln. Das ist nicht gut. 99,9 Prozent des Landes Südtirol aber sind leer. Jetzt müssten sich die Menschen nach dieser Corona-Erfahrung, und das ist eine ganz besondere Erfahrung, einfach besser verteilen im Gebirge.
Wie soll das funktionieren?
MESSNER: Jetzt ist ganz klar der Gesetzgeber gefordert, der sagt: Weg mit den inszenierten Bergen! Weg mit den Aussichtsplattformen, zu denen Menschenmassen strömen. Wir müssen die Politiker in die Pflicht nehmen, dass sie für die Verteilung der Menschen dort droben sorgen. Das gilt für Österreich genauso wie für Südtirol. Keine Aussichtsplattformen mehr! Große Seilbahnen müssen durch kleinere Bahnen ersetzt werden. Natürlich will ich keine Seilbahnen verbieten in Regionen, die von Seilbahnen leben, weil viele Arbeitsplätze daran hängen, aber in Gebieten, in denen bisher nichts dergleichen gebaut worden ist, würde ich als Alternative entschleunigte, nachhaltige touristische Angebote machen. Wir dürfen uns nicht mehr im ,Massentourismus’ auf die Berge werfen. Wir haben alle Platz dort oben. Der Begriff Overtourism muss endgültig ausgedient haben.
„Wer den lauteren Event hat und die größere Umweltzerstörung hinterlässt, hat die meisten Gäste“, kritisieren Sie in „Rettet die Berge“. Was ist zu tun?
MESSNER: Die Menschen verlassen die Stadt, sehnen sich nach sauberer Luft, nach Entschleunigung, nach erhabenen Bergen. Und wo gehen Sie hin? Wo es schlimmer ist, als in Wien, Berlin oder New York und wo Rambazamba gespielt wird. Das ist ja das Dumme: Dass der Tourist selbst sein Habitat, also den Ort, wo er Urlaub machen will, zerstört. Deswegen muss man dem Touristiker, als jemandem, der in den Alpen Gästen eine Bleibe und eine Erholung anbietet, beibringen, dass er aufpassen muss. Und da ist auch die Politik wieder gefragt, die klare Regeln aufstellen muss.
Wo es Regeln gibt, wird auch der Ruf nach Freiheit laut. Auch in der Coronakrise gab es den Vorwurf, dass die Freiheit des Einzelnen massiv eingeschränkt wurde.
MESSNER: Freiheit hat immer mit Verantwortung zu tun. Je mehr Freiheit ich mir nehme, desto mehr Verantwortung trage ich auch. Und wenn die Menschen nicht in der Lage sind, Verantwortung für saubere Berge zu tragen, muss man leider einen Teil ihrer Freiheit einschränken. Beim Coronavirus haben wir alle am Beginn eingesehen, dass die Regeln notwendig sind. Am Beginn waren die Politiker auch sehr gut, weil sie bei der Schließung eine klare Sprache hatten und auch die Virologen in der Lage waren, die Gründe zu erklären. Und der Lockdown war notwendig, darüber gibt es keinen Zweifel. Bei der Öffnung wurde es schwieriger: Da wurde gezögert, manches war auch widersprüchlich, und dann begannen die Proteste. In Deutschland mehr als in Österreich. Wir alle haben aber gesehen, dass jene Politiker, die schnell und radikal zugemacht haben, größere Erfolge bei der Lösung dieser Coronakrise haben. Die anderen, die Corona mit einer kleinen Grippe verglichen haben, siehe Trump, siehe Bolsonaro, haben jetzt wirklich große Probleme. Aber leiden müssen die Menschen dort, die dieses Virus einfangen und dadurch bis an ihr Lebensende geschädigt sind. Aber die Coronakrise muss uns wachrütteln.
Inwiefern?
MESSNER: Mein Buch „Rettet die Berge“ habe ich ja schon vor der Coronakrise geschrieben. Darin geht es um ein radikales Umdenken, was den Umgang mit der Natur angeht. Und das ist jetzt mehr als notwendig. Politiker sollten mein Büchlein schon deswegen lesen, weil sie damit Menschen helfen könnten, sich vor sich selbst zu schützen. Auch der Touristiker, der ja in zehn, 20 Jahren auch noch vom Berg leben will, muss die Menschen führen und ihnen die Geschichten über die jeweilige Berglandschaft erzählen. Ich bin nicht a priori gegen Seilbahnen, aber ich bin dagegen, dass man Menschen in Ketten und Seilen auf die höchsten Gipfel lenkt. Ich bin dagegen, dass man Strukturen baut und auch noch die Landschaft verbaut, um große Massen zusammenzubringen. Hat es einen Sinn, ein Konzert auf 2200 Metern Meereshöhe zu machen mit 35.000 Menschen, mit Lautsprechern, die die Wände erzittern lassen?! Das gehört in die Stadt, das gehört in ein Stadion, aber nicht auf einen Berg, auf dem ich die Stille suche.
Sie betonen, dass Sie immer auf der Suche nach der Menschennatur waren, wenn Sie die Welt vertikal, horizontal, längs oder quer erobern wollten. Warum zerstört der Mensch das, wonach er sich am meisten sehnt - die Stille, die Weite?
MESSNER: Ich denke, wir alle sind inzwischen so überladen mit Lärm aus den Städten, mit Hektik, mit Aggression, dass kaum jemand noch mit der Einsamkeit zurechtkommt. Es ist auch gar nicht so einfach, mit sich selbst zurechtzukommen. Aber wenn ich allein oder mit meiner Frau oder mit Familie in die Einsamkeit hinaufgehe, dann habe ich eine Möglichkeit, Maß zu nehmen. Dann bekomme ich eine Vorstellung davon, wie schnell ich bürgerlich und ängstlich werde, weil ich weit weg von jeder Sicherung bin. Das ist auch gut so. Das Bergsteigen hat ja damit angefangen, dass der Mensch Maß nehmen wollte.
In der Coronakrise hat man den Eindruck bekommen, dass die Angst vor der Krankheit, letztlich die Angst vor dem Tod, die Menschen verändert hat. Pascal Mercier schreibt in seinem Roman „Das Gewicht der Worte“: „Die Ankündigung des Todes macht einsam.“ Sie haben am Nanga Parbat selbst eine Nahtoderfahrung gemacht. Hat Pascal Mercier recht?
MESSNER: Ich brauche gar kein Nahtoderlebnis, um in diese Einsamkeit hineinzurutschen. Ich brauche nur eine klare Vorstellung von der Tatsache, dass ich ein Sterbender bin. Und das macht einsam. Das ist so. Jeder stirbt für sich allein. Dass ich mir leichter tue, ein solches Gefühl in mir hochkommen zu lassen, weil ich am Nanga Parbat meine schlimmste Nahtoderfahrung hatte, stimmt. Das nahe Ende hat mir aber auch klar gemacht, dass es einen Moment des Glücks in sich birgt. Ich lasse mich ins Sterben fallen. Ich hatte am Ende keine Angst mehr, verspürte keine konkrete Einsamkeit, war mit dem Sterben einverstanden. Aber um so weit zu kommen, muss man das Glück haben, nachher wieder aufzuwachen.
Wie denken Sie jetzt über den Tod?
MESSNER: Ich glaube ja nicht, dass wir auferstehen und in den Himmel kommen. Ich glaube, dass die Natur - und Corona hat das speziell vor Augen geführt - die bestimmende Kraft auf dieser Erde ist. Es gibt etwas über uns hinaus. Das Virus hat uns gezeigt, dass ein Nichts, das man noch nicht einmal sehen kann, völlig ausreicht, um die Menschheit umzubringen.
Eine Nebenwirkung des Coronavirus: Auf der ganzen Welt geht die Luftverschmutzung zurück. In Indien können Menschen wieder den Himalaya aus Hunderten Kilometern Entfernung sehen. Hat Corona auch etwas Gutes?
MESSNER: Die Luft ist sauberer geworden, es fliegen weniger Flugzeuge. Eines ist sicher: Der Ferntourismus wird sich massiv verändern. Er wird teurer, weniger Menschen werden ihn sich leisten können. Die Coronakrise wird uns zwingen, in vielen Bereichen umzudenken, und vor allem auf Weniger statt auf Mehr zu setzen. Wir sollten die Krise nützen, um ein besseres Verhältnis zur Natur aufbauen.