Seit Großbritannien den Ausstieg aus der EU beschlossen hat, ist Zeit ein entscheidender Faktor. Der Ablauf war mit Überreichen des Antrags auf zwei Jahre limitiert, und doch dauerte es allein zweieinhalb Jahre, bis im November 2018 ein 585 Seiten dicker Rahmenvertrag, ergänzt durch eine politische Deklaration, von Theresa May und den EU-27 unterzeichnet wurde. Mehr als ein Jahr und einen Regierungssturz später, nach ewigen Nach- und Neuverhandlungen, gab es im Jänner 2020 die finalen Abstimmungen – Großbritannien verließ, mit einer Übergangszeit bis Ende 2020, am 31. Jänner die EU.
Erst von diesem Tag an war es möglich, all jene Details auszuhandeln, die die künftigen Beziehungen der Parteien regeln sollen, von der Fischerei bis zum Datenaustausch, von Staatshilfen bis zur Vermeidung einer inneririschen Grenze. Es ist eine Herkulesaufgabe für Hundertschaften von Beamten und Experten. Jede Seite formierte ein rund 120 Personen starkes Verhandlungsteam, letzte Woche gab es die mittlerweile vierte Runde – und das Ergebnis ist niederschmetternd. Statt Annäherung und Abhaken der Punkte driften die Parteien immer weiter auseinander. EU-Chefverhandler Michel Barnier, ein eleganter, besonnener Franzose mit langjähriger Erfahrung als EU-Kommissar und Minister, wurde von Mal zu Mal sichtbar übler gelaunt. „Wir können nicht ewig so weitermachen“, grollte er am Freitag und listete Beispiele dafür auf, wo die Briten von den Vereinbarungen wieder abrücken. London weigere sich, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards der EU im Gegenzug für einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu akzeptieren, man sei von Anti-Geldwäsche-Regeln und nuklearen Sicherheitsstandards weit entfernt, ebenso bei der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz.
Noch mehr als alles andere drängt das Thema Fischerei, hier hat man sich selbst den 1. Juli als Limit gesetzt. EU-Länder wie Frankreich, Dänemark, Spanien oder Belgien verlangen weiterhin Zugang zu britischen Gewässern, die Briten wollen aber, wohl aus Prestigegründen, die volle Kontrolle zurück. Für Beobachter in Brüssel ein Schuss ins Knie: Der Großteil der Fischsorten ist nur für das Festland, nicht aber für Großbritannien interessant. Ein Handel damit hat nur Sinn, wenn es entsprechende Möglichkeiten gibt. Doch die sind nicht in Sicht: Das gesamte Brexit-Vertragswerk müsste bis Anfang November unter Dach und Fach sein, da es vom Parlament und gegebenenfalls auch von allen 27 EU-Ländern noch ratifiziert werden muss.
Immer wieder ein Pokerspiel
Und wieder ist es die Zeit, die ins Spiel kommt. Boris Johnson müsste bloß beim EU-Gipfel kommende Woche eine Verlängerung der Übergangszeit um zwei Jahre erbitten. Doch lieber ließ er es sich in ein Gesetz gießen, dass das nicht infrage kommt, als in Brüssel zu Kreuze zu kriechen. Außerdem würde das Königreich dann umso länger in der verhassten Union bleiben müssen – als zahlender, stummer Gast. Johnson dürfte in bekannter Spielermanier weiter auf Zeitdruck setzen. In der Hoffnung, dass die EU am Schluss doch noch Zugeständnisse macht. Doch EU-Diplomaten verwiesen zuletzt recht deutlich darauf, dass ein „schlechter Deal“ ohnehin nicht mehr weit von einem „No Deal“ entfernt sei – die EU dürfte also dem „Rosinenpicken“ auch weiterhin eine Abfuhr erteilen.
Geht alles schief, so der aktuelle Spin, würde Johnson die negativen Folgen für sein Land eben in die Corona-Auswirkungen einweben. Nun soll es noch im Juni ein Treffen von Johnson mit den EU-Spitzen von der Leyen (Kommission), Michel (Rat) und Sassoli (Parlament) geben. Die Hoffnung, in der Sache weiterzukommen, ist gering.