Sieben Jahre Kindheit im „Tausendjährigen Reich“. Größe wurde uns von klein an vorgegaukelt. Wie armselig klein diese Welt in Wahrheit war, erfuhr man erst allmählich. Auch durch eine Literatur, die uns bisher vorenthalten wurde.


Ich besuchte die Realschule in Linz und war Bahnschüler. Eines Tages fuhr wegen der vielen Bombenangriffe kein Zug mehr. Ich wanderte vom schwer beschädigten Hauptbahnhof den Gleisen entlang die acht Kilometer nach Hause. Auf „Oberdonau“ wurden im Zweiten Weltkrieg 25.000 Tonnen Bomben abgeworfen. Ein Hauptziel war meine Geburtsstadt Linz. Allein zehn Angriffe gab es im Dezember 1944. Auch im Jahr 1945 ging es noch weiter und eine der „Fliegenden Festungen“ der Alliierten warf einmal ihre Last etwas zu früh ab und ein paar Bomben detonierten in der Nähe unseres Hauses.


Wir kauerten im hintersten Eck des Kellers in unserem Einfamilienhaus, dort wo die Erdäpfel lagerten. Wir, das waren meine Mutter, meine vierjährige Schwester, eine „Fremdarbeiterin“ und ich. Mein Vater war seit 1938 „eingerückt“. Als eine Bombe ganz in der Nähe einschlug und das Haus in seinen Grundfesten bebte, begannen wir laut zu beten. Nie mehr hatte ich später ein solches Gefühl panischer Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins.


Die „Fremdarbeiterin“ war Ukrainerin und hieß Lydia. Sie hatte, als die Sirenen losheulten, bei uns Zuflucht gesucht. Fast jede zweite Arbeitskraft in „Oberdonau“ war damals „volksfremd“, wie es im NS-Propagandajargon hieß: Zwangsdeportierte aus besetzten Gebieten und Kriegsgefangene.


Mein letztes Zeugnis von der „Staatlichen Oberschule für Jungen“ im NS-Regime ist datiert mit 21. Dezember 1944. Am 18. Dezember hatte ich meinen 12. Geburtstag gefeiert. Das nächste „Staatsgültige“ Halbjahreszeugnis von der „Staatsrealschule Linz“ trägt das Datum 15. Februar 1946. Dazwischen lagen ein paar Monate „Ferien“ im Krieg und in der ersten Nachkriegszeit, ein verlorenes Schuljahr, der Einmarsch der Amerikaner und Russen in Oberösterreich sowie die Rückverwandlung der Ostmark in ein neues Österreich. Ich erlebte Fliegeralarm bei Nacht und bei Tag, machte einen Tieffliegerangriff mit, sah meine ersten Toten und wurde zum Bau einer Panzersperre eingeteilt, der die Tanks der Amerikaner dann bequem ausweichen konnten.


Meine erste Auslandsreise machte ich 1952, sieben Jahre nach Kriegsende, mit fast 20 Jahren. Es war die Maturareise nach Rom.
Die Welt hatte ich zunächst aus „Rolf Torrings Abenteuer“ kennen gelernt. „Gelbe Haie, „Im Todessumpf“ oder „Auf der Teufelsinsel“ waren die Titel dieser Hefte. Und die Kolportage- Abenteuer ereigneten sich in Indien, Afrika, Südostasien oder Südamerika. Die reale Welt waren die „Fronten“ aus den Wehrmachtsberichten: Zum Beispiel die Eismeerfront mit Kirkenes im nördlichsten Norwegen, die Front in Afrika mit El Alamein in Ägypten oder die Ostfront mit Stalingrad.


Nach der „Schundheftl“- Phase kam Karl May an die Reihe. Den ersten Band schenkte mir eine meiner Tanten 1943: „Der Ölprinz.“ Karl May war dann einige Zeit mein bevorzugter Autor. Der Erfinder des Old Shatterhand und des Kara ben Nemsi hatte, wie ich später erfuhr, einen breit gefächerten Fan-Kreis: von Erwin Pröll bis Josef Winkler, von Hermann Hesse bis Peter Rosegger. Und Carl Zuckmayer gab seiner Tochter sogar den Namen „Winnetou“. Viel zu spät wurde ich informiert, dass zwei Werke als Lektüre genügt hätten: „Im Reiche des Silbernen Löwen“ sowie „Ardistan und Dschinnistan“. Diesen Rat einer so strikten Beschränkung erfuhr ich beim Lesen der privaten deutschen Literaturgeschichte des Schriftstellers Arno Schmidt. Der hatte, ziemlich eigenwillig, den bereits als „Reiseschriftsteller“ katalogisierten Karl May als „bisher letzten Großmystiker unserer Literatur“ entdeckt.
Aber ich war auf einem guten Weg. Wegweiser nach dem Krieg waren mir vor allem die Buchreihe „Ewiges Wort“ des Wiener Ullstein Verlages und die „Büchergilde Gutenberg“, die unter den Fittichen des Gewerkschaftsbundes gut gedieh.


Mit dem ambitionierten Projekt „Ewiges Wort“ plante der Herausgeber Edwin Rollett ab April 1946, in einer Zeit großer Papierknappheit, die Herausgabe von 100 Bänden „Meisterwerke der Weltliteratur“ (40 Autoren aus sechs Sprachgebieten). Mit dem für die ersten Nachkriegsjahre typischen Pathos hieß es in der Begründung des Verlages: „Das Ewige Wort soll die Stimme der Humanität, die in den letzten Jahren des Grauens verstummt schien, wieder zum Klingen bringen.“ Nach der Zeit des Ungeistes sollte man wieder im Reich des Geistes heimisch werden können. Zunächst um fünf Schilling pro broschiertem Band …


Da konnte man von den Romanen Honoré de Balzacs über karrieresüchtige französische Bürger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Großgrundbesitzern und Leibeigenen Nikolai Gogols im russischen Zarenreich pendeln, die er in seinem Roman „Die toten Seelen“ schildert. Oder man schauderte bei der Lektüre der Erzählungen Edgar Allan Poes, eines Großmeisters im Ausloten des Abgründigen und zudem „Vater des Kriminalromans“. Leider schaffte der Ullstein-Verlag von den vorgesehenen 100 Bänden nur 29. Ende 1947 brach er das Projekt ab.
Ausdauernder war da die „Büchergilde Gutenberg“: 1951 bot sie ihren 54.757 Mitgliedern bereits l00 Titel zur Auswahl an. Besonders verdienstvoll war die Buchgemeinschaft bei der Förderung österreichischer Literatur mit der Reihe „Gildenbibliothek österreichischer Autoren“. Stefan Zweigs Erinnerungen eines Europäers „Die Welt von Gestern“ erschienen zum Beispiel 1952. Aber auch mit Jack London oder Ernest Hemingway machte die Büchergilde nach dem Krieg ihre Mitglieder vertraut. Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ erschien zum Beispiel 1949. Ab 1950 eroberten dann die ro-ro-ro -Taschenbücher des deutschen Rowohlt-Verlages den Markt – monatlich mit einem verlockend großen Angebot an Titeln.


Die Nachkriegsjahre werden uns ja heute vor allem als Phase dumpfer Verdrängung geschildert. Für mich und viele meiner Generation bedeuteten sie eine hoffnungsvolle Ära des Aufbruchs. Der geistige Nachholbedarf war groß und Bücher wirkten in dieser Umbruchsphase auch als eine Art Hirn-Desinfektion nach der langdauernden Vergiftung durch die NS-Propaganda.
Richtig mit DDT desinfiziert wurde ich eines Tages von einem amerikanischen Soldaten auf der Linzer Nibelungenbrücke. Ich hatte mir in einem Kino in Urfahr, das in der sowjetischen Zone lag, einen russischen Film angeschaut, „Panzerkreuzer Potemkin.“ Aber diesmal genügte bei der Rückkehr nach Linz nicht das Vorzeigen des Identitätsausweises mit seiner bestimmten Anzahl von Stempeln, nein: Mit einer Art Pumpe, die mir für diesen Zweck unangemessen groß schien, wurde mir DDT-Pulver hinten beim Kragen hinein auf den Rücken geblasen…


Das war ein symbolischer Akt: Der kalte Krieg hatte begonnen.