Ich lebe seit elfeinhalb Jahren südlich von Göteborg, bin 47 Jahre alt, habe hier zwei Kinder geboren, die nun sieben und fast neun Jahre alt sind. Ich bin Tierärztin und arbeite in einer Kleintierklinik. Ich hab täglich Kontakt zu meiner Schwester in Wien und zu meiner Mutter.
Wie habe ich die letzten zwei Monate hier erlebt? Mitte März, als Österreich in den Lockdown gefahren wurde und in Schweden alles hollodero weiterging, hab ich zunächst fürchterliche Panik bekommen. Die Kinder sollten weiter in die Schule gehen, wir haben unsere aber seit 18. März zu Hause, weil ich mich lieber an die Empfehlungen der WHO halte und beide seit mittlerweile mehr als vier Wochen Fieber haben. Das Fieber ist nicht sehr hoch und die Kinder haben keine anderen Symptome. Aber normal ist das sicher nicht. Vier Wochen lang habe ich versucht, einen Arzt aufzutreiben. Unmöglich. Die Antwort von Krankenhaus, Ärztezentrale, Coronahotline: „Ja, ja, das Virus kann sich lange halten. Zu Hause aussitzen!“
Dazu muss ich erwähnen, dass unsere Kleine mit einer schweren körperlichen Behinderung geboren wurde, was sie für die Schweden aber nicht zur Risikoperson macht. Erst vor zwei Tagen durften wir in die Ärztezentrale. Am Parkplatz erwarteten uns eine Krankenschwester und ein Arzt, beide in Schutzausrüstung. Die Kinder wurden abgehorcht, man schaute ihnen in den Mund, es wurde Fieber gemessen und eine Viruserkrankung diagnostiziert. Eine Blutprobe? „Machen wir nicht.“ Ein Coronatest? „Machen wir auch nicht, meldet euch, falls schwere Symptome auftreten.“ Zumindest habe ich die Kinder jetzt einem Arzt vorgestellt, damit kann mir die Schule nicht zu Leibe rücken. Andere Eltern, die ihre Kinder aus Angst zu Hause haben, bekommen Anrufe vom Jugendamt. Lehrer zeigen sie an, weil Schulpflicht herrscht.
Mein Lebensgefährte arbeitet seit 18. März von zu Hause aus, da ich normal arbeite, übernimmt er die Betreuung der Kinder. Im Job haben wir Ende voriger Woche (!!!) Visiere und Plexiglasscheiben bekommen. Die Visiere kann man freiwillig anwenden, ich bin die Einzige, die es derzeit tut. Man merkt jetzt aber, dass die Leute mehr auf Abstand sind. Mundschutz trägt aber niemand in der Öffentlichkeit, man kommt sich vor wie ein Alien, wenn man es doch tut. Schwedens oberster Epidemiologe Anders Tegnell hat am Montag im Staatsfernsehen zur Hauptabendsendezeit noch behauptet, Mundschutz wäre gefährlich.
Da bis vor zwei Monaten der erste Tag des Krankenstandes nicht bezahlt wurde, war es üblich, auch mit Krankheitssymptomen in der Arbeit aufzutauchen. Seit Ende März sollten die Leute beim kleinsten Symptom daheim bleiben. Aber das mit den Symptomen ist so eine Sache: Erst hieß es: Hast kein Fieber, hast kein Corona. Und jetzt: Hat es mich gerade im Hals gekratzt? Hab ich jetzt Covid-19?
Was ich sagen will: Dadurch, dass in allen anderen Ländern nur systemrelevante Einrichtungen offen hatten, stellte sich die Frage nach den Symptomen nicht, alle waren zu Hause, die anderen schützten sich, so gut es ging. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen in Schweden arbeiten gegangen sind, obwohl sie Krankheitssymptome hatten. Und dann gibt’s ja noch die asymptomatischen Überträger, wie meine Kinder. Die sind laut der schwedischen Gesundheitsbehörde FHM, mit Tegnell an der Spitze, nicht ansteckend.
Das alles habe ich als sehr verwirrend erfahren, da ich sehr intensiv die internationalen Medien konsumiert habe. Es ist, als ob man von der Wohnzimmercouch einen apokalyptischen Science-Fiction-Film sieht: Spannend, betrifft uns aber irgendwie nicht. Dann kommt das Virus näher. Jeden Tag denkt man: So, jetzt werden sie es sicher dem Rest Europas nachmachen, sie müssen! – Nein! Der Lockdown kam nicht. Nur diese elenden, oft jeder Logik widersprechenden Empfehlungen. Ich finde es faszinierend, wie die schwedischen Verantwortlichen ihre Unfähigkeit zu handeln und auch die Scheu davor, Entscheidungen zu treffen, die wehtun könnten, als Vertrauensvorschuss in die Bevölkerung verkaufen.
Immer wieder wird das Argument gebracht: Wir wissen ja nicht, was die richtige Strategie ist. Ja, eh, aber man kann doch nicht, wenn man „nichts weiß“, einfach den Leuten beim Sterben zusehen? Es gibt so viele Fragen und kaum Antworten. Zahlen und Statistiken kann man wohl vergessen. Es werden nur Personal im Gesundheitswesen und krankenhauspflichtige Patienten mit eindeutigen Symptomen getestet. Und es gab wohl stichprobenartige Tests.
Die Situation in den Altersheimen ist chaotisch. Einige Berichte in den Medien sind so haarsträubend, dass man ihnen nicht glauben kann und will.
Zugleich regt sich immer mehr Widerstand gegen diesen laschen Umgang mit dem Virus. Viele Leute haben Angst, weil sie keine konkreten Anweisungen bekommen und es nicht verständlich ist, warum Schweden so einen anderen Weg geht.
Es gibt mittlerweile Gruppen, die lautstark den Rücktritt von Tegnell verlangen, Worte wie „Massenmörder“ und „Eugenik“ fallen. Dann gibt es auf der anderen Seite die, die Tegnell fast kultartig verehren. Es gibt sogar Leute, die sich sein Konterfei auf den Unterarm tätowieren lassen!
Man nimmt an, dass gut 80 Prozent der Bevölkerung Tegnells Vorgehen gutheißen. Es gibt sogar Leute, die allen Ernstes fordern, dass die freien Medien gar nicht über Corona berichten, sondern nur die Mitteilungen der Gesundheitsbehörde veröffentlicht werden sollten. Tegnell öffentlich zu kritisieren, ist nicht angebracht. Tut man es doch, kann einem schnell passieren, dass man gesagt bekommt: „Wenn’s hier so schlimm ist, warum bist du dann noch hier?“
Was mich so betroffen macht, ist, wie extrem wichtig die Wirtschaft hier ist und dass man das Gefühl hat, dafür über Leichen zu gehen. Dabei geht’s der Wirtschaft hier genauso schlecht wie überall, Schweden ist ja keine Insel.
Es ist anstrengend, da immer einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Einzige, was einem bleibt, ist, darauf zu vertrauen, dass die Wissenschaft und die Medizin schnell Antworten und Lösungen finden werden. Bis dahin: Bitte passt alle auf euch auf!
Isabelle Schamschula aus Göteborg