Herr Landeshauptmann, Österreich will Mitte Juni seine Grenzen zu Deutschland öffnen. Am Brenner bleiben die Balken herunten. Lässt die Regierung in Wien Südtirol im Stich?
ARNO KOMPATSCHER: Das würde ich so empfinden, wenn ich nicht wüsste, dass die Verantwortlichen in Wien sehr wohl an Südtirol denken und bereits Gespräche zwischen dem österreichischen und dem italienischen Außenministerium laufen. Bis 15. Juni ist es noch ein Stück weit, ich bin zuversichtlich, dass wir für die Brennergrenze zu ähnlichen Lösungen kommen, wie sie für Deutschland und die Schweiz angekündigt wurden. Dies umso mehr, als wir vergleichsweise gute Coronazahlen in Südtirol haben.
Wie ist die aktuelle Lage?
Wir haben seit mehreren Tagen keinen Todesfall mehr und im Wochenschnitt an die drei Neuinfektionen pro Tag. Das Testniveau ist hoch. Wir haben in Südtirol über 50.000 Tests durchgeführt. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung, was im europäischen Vergleich ein Spitzenrang ist. Fünf Patienten sind noch in Intensivbetreuung in Südtirol, zwei im Ausland. Die Situation ist stabil.
Leidet Südtirol als Grenzregion besonders unter der Coronakrise?
Wir sind eine Minderheit, verstehen uns als kleines Europa in Europa und wollen Brücke sein. Da ist so eine Situation alles andere als zufriedenstellend. Wir arbeiten deshalb für eine europäische Lösung. Ich bleibe optimistisch, dass auch diesmal nur die Zusammenarbeit der europäischen Staaten aus der Krise führt. Das war auch bei der Migration so. Zuerst hat jedes Land für sich agiert, aber am Ende musste man doch gemeinsame Beschlüsse fassen und es waren europäische Regeln und Abkommen mit außereuropäischen Staaten, die letztendlich gegriffen haben. Das wird auch hier wieder nicht anders sein.
Hat Europa bei Corona versagt?
Diese Frage wird in Krisen immer gestellt. Die Antwort lautet meistens ja. Nur muss man hinzufügen: Wer ist Europa? Das sind die Mitgliedsstaaten der EU, die sich wieder einmal nicht zusammengesetzt haben, sondern sich zunächst selber schützen wollten. Das ist ein nationaler Reflex, den es in Europa gibt, weil man sich schwertut, gemeinsame Strategien zu entwickeln. Diese sind komplexer. Da muss man verhandeln, unterschiedliche Vorstellungen zusammenführen und Kompromisse schließen. Das wurde in der Coronakrise nicht getan. Mein Fazit lautet: Die Entscheidungsmechanismen in der EU sind nicht schlagkräftig genug, um eine Herausforderung für ganz Europa europäisch rasch zu lösen. Dafür bräuchte es ein Mehr an gegenseitigem Vertrauen und das Zugestehen von Entscheidungshoheit an die europäische Ebene.
Wie kann eine europäische Lösung für das Reisen ausschauen?
Bei der Ausbreitung des Virus in Europa gibt es bei den Zahlen inzwischen eine große Annäherung. Das macht Grenzkontrollen irgendwann tatsächlich sinnlos. Wir sollten gemeinsame Sicherheitsstandards festlegen und uns auf der Basis gegenseitiger Informationspflicht auf Grenzwerte einigen, ab denen gegebenenfalls Reisefreiheiten wieder eingeschränkt werden.
Südtirol ist in Italien mit Lockerungen vorgeprescht. Ist das nicht genau so ein Alleingang, wie Sie ihn Europas Staaten vorhalten?
Wir sind von Anbeginn der Krise loyal den Weg mit Rom mitgegangen und haben alle Kompromisse mitgetragen, selbst dort, wo aufgrund staatlicher Notwendigkeiten Dinge beschlossen wurden, die wir in Südtirol leicht abgeändert umgesetzt hätten. Wir haben aber auch frühzeitig angemerkt, dass man irgendwann wieder in eine Phase der Regionalisierung gelangen müsse. Mein Vorschlag, den alle anderen Präsidenten in der Regionenkonferenz unterstützt haben, war, dass man doch gemeinsam mit den Regionen staatliche Leitlinien definieren möge. Das wurde leider nicht getan. Dabei wäre es genau die typische Lösung, die Europa im Prinzip fordert. Europa heißt ja nicht, dass alles von Brüssel aus gestaltet wird, sondern dass man Grundzüge festlegt und auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene die Entscheidungen dann so trifft, wie sie den Gegebenheiten entsprechen. Das ist kein Widerspruch. Das Ganze nennt sich Subsidiarität.
Ist der Graben zu Rom in der Coronakrise tiefer geworden?
Wir haben in der Krise in vielem mit Rom ein sehr gutes Einvernehmen gehabt. Bei der Frage der Wiederöffnung – der Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens – waren wir unterschiedlicher Auffassung. Das muss man aushalten.
Könnte Corona der Auftakt zu einer neuen „Los von Rom“-Bewegung sein? „Kurz, hol uns heim“ war auf einem Plakat in Südtirol zu lesen.
In solchen Situationen gibt es natürlich auch in Südtirol bestimmte Reflexe. Manche wollen die Sorgen, Ängste und ja auch eine gewisse Verärgerung der Bevölkerung für ihre politischen Ziele nutzen. Umgekehrt gibt es genauso solche, die in Südtirol das Pferd des italienischen Nationalismus reiten. Das sei jetzt der Beweis dafür, dass es viel klüger wäre, wenn alles zentral in Rom entschieden würde. In Wahrheit ist der Wunsch nach Selbstbestimmung auf demselben Niveau wie immer. Was noch einmal richtig deutlicher artikuliert wurde, ist der Ruf nach mehr Autonomie und der Wunsch, diese wirklich zu leben. Genau das machen wir unter überwältigendem Zuspruch der Südtiroler mit der Wiederöffnung.
In Österreich wachsen die Zweifel an der Notwendigkeit des Lockdown. Teilen Sie die Skepsis?
Die Regierung in Italien hat mit dem Lockdown zeitgerecht und absolut angemessen reagiert. Wenn man weiß, was in Norditalien los war, war es notwendig, radikal zu handeln. Danach kann man darüber diskutieren, wie schnell es mit der Öffnung gehen kann und welche Begleitmaßnahmen es nun braucht. Im Nachhinein kann man immer leicht sagen, dies und jenes hätte es nicht gebraucht. Aber wir alle - die Politik und die Wissenschaft – agieren nur auf Sicht, weil wir leider viel zu wenig über das Virus wissen. Es ist ein Sich-Vortasten und es geht um Menschenleben. Handelt man nicht, wird man hintennach gekreuzigt. Die hinterher Klügeren sind immer in der Mehrheit.
Spüren Sie den Stimmungswandel auch in Südtirol?
Es gibt eindeutig eine Polarisierung. Die einen fühlen sich noch viel zu wenig geschützt, den anderen kann die Öffnung gar nicht weit genug gehen. Und dann gibt es natürlich diese abstrusen Verschwörungstheorien, die in Krisenzeiten immer Konjunktur haben. Dem kann man nur mit größter Transparenz und Ehrlichkeit entgegentreten. Das heißt aber auch, das Eigene ständig kritisch zu hinterfragen. Die Debatte, ob nur die Empfehlungen der Virologen in Betracht zu ziehen sind oder auch andere Stimmen, ist nicht nur zulässig, sondern auch notwendig und wichtig.
Wie sehen Sie die Causa Ischgl?
Wir standen in Südtirol vor einer ähnlichen Herausforderung, nur ein paar Tage früher. Wir hatten noch extrem niedrige Infektionszahlen. Plötzlich kam völlig überraschend die Meldung vom Robert-Koch-Institut, dass relativ viele deutsche Skiurlauber mit dem Virus nach Hause kämen. Das war zu einer Zeit, als bei uns noch keine Schulferien und wenig Einheimische auf den Pisten waren. Offenbar hatten Urlauber aus Oberitalien deutsche Gäste angesteckt. Das hat also an uns vorbei stattgefunden. Erst als wir mitbekommen haben, dass da mehr läuft, haben wir gemeinsam mit der Tourismuswirtschaft den Stopp verfügt. Ich kann mir vorstellen, dass es im Bundesland Tirol ähnlich gelaufen ist. Man trifft Entscheidungen anhand der Datenlage, die verfügbar ist.
Wo werden Sie heuer urlauben?
Ich habe schon relativ früh zur Silberhochzeit, die wir heuer feiern, einen Island-Trekkingurlaub gebucht. Das war ein Wunsch meiner Frau. Nur wir zwei zu Fuß unterwegs. Wir haben ja eine große Kinderschar. Es wäre der erste Urlaub in 25 Ehejahren, den wir alleine machen würden. Schauen wir einmal. Das wäre im August. Noch ist es möglich.