Es war bisher der längste Volksaufstand in der Arabischen Welt. 13 Monate lang trotzten in Algerien hunderttausende Demonstranten jeden Freitag ihren korrupten politischen Eliten und forderten fundamentale Reformen des Staatssystems. Nichts konnte die Menschen aufhalten, weder Regen noch Hitze, weder Polizeiknüppel noch Straßensperren, weder Diffamierungskampagnen noch Behördenschikanen.
Bis das Corona-Virus auftauchte. Am 25. Februar gab es den ersten Infizierten in Algerien, am 13. März waren die Massen zum letzten Mal auf den Straßen, an ihrem Freitag Nummer 56.Danach waren öffentliche Versammlungen verboten, im ganzen Land gelten strikte Ausgangssperren. Der Hirak-Protestbewegung blieb nichts anderes übrig, als sich ins Internet zurückzuziehen. Wann und ob es überhaupt mit dem allwöchentlichen Volksaufstand weitergeht, kann derzeit niemand sagen.
Das Regime geht mit Härte gegen Kritiker vor
Denn die alte Garde um Präsident Abdelmajid Tebboune sieht in der Covid-19-Krise die goldene Gelegenheit, das aufmüpfige Volk auf Dauer zum Schweigen zu bringen. Seit Beginn der Ausgangssperre hagelt es im ganzen Land Vorladungen, Verurteilungen und Verhaftungen von Hirak-Aktivisten, Studenten, Oppositionspolitikern und Journalisten, darunter der bekannte algerische Reporter Khaled Drareni. Er gehört zu den Mitbegründern der Internetzeitung „Casbah Tribune“, arbeitete als Korrespondent des französischen Senders „TV5 Monde“ und als Beobachter für die Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 41-Jährigen „Angriff auf die nationale Einheit“ sowie „Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung“ vor. In Algier verurteilte ein Gericht den populären Linkspolitiker Karim Tabbou wegen „Angriffe auf die Moral der Armee“ zu einem Jahr Gefängnis. Der Hirak-Aktivist Ibrahim Daouadji muss wegen „Veröffentlichungen auf Facebook, die die nationale Einheit untergraben" für sechs Monate hinter Gitter. Im Februar und April begnadigte Staatschef Tebboune wegen der Corona-Gefahr 14802 Häftlinge, von den derzeit 51 Hirak-Gefangenen jedoch war niemand dabei.
Gleichzeitig macht das Regime auch gegen regierungskritische Medien mobil. Dazu verabschiedete das Parlament neue Gummiparagraphen, die sämtliche Berichte unter Strafe stellen, die angeblich „der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit des Staates und der Einheit der Nation“ schaden. Seit Mitte April sind in dem nordafrikanischen Land die drei populären Online-Portale „Maghreb Emergent“, „Interlignes“ und „Radio M“ blockiert, die ausführlich über den Volksaufstand berichteten.
Verfallender Ölpreis könnte Regime Rest geben
Trotzdem könnte es für Algeriens politische Führung nach Corona ein böses Erwachen geben. Denn die wirtschaftlichen Probleme türmen sich. Durch den Ölpreis-Kollaps Mitte April könnten die staatlichen Devisenreserven aus Öl- und Gasexporten bereits Ende 2021 völlig aufgebraucht sein. In Panik nahm Präsident Tebboune kürzlich seine Landsleute ins Gebet und schimpfte, es müsse Schluss sein „mit Verschwendung, Faulheit und übermäßigem Konsum”. Die Staatsausgaben, die noch mit einem Preis von 60 statt den aktuell 20 Dollar pro Barrel kalkuliert sind, will er mit einem Schlag halbieren. Da sich der völlig überdimensionierte und verknöcherte Bürokratenapparat so schnell nicht reduzieren lässt, treffen die Kürzungen wohl vor allem die dringend nötigen staatlichen Investitionen in Wohnungsbau, Infrastruktur und Ölindustrie. „Algerien steht finanziell am Abgrund“, urteilt Luis Martinez, Nordafrika-Spezialist an Sciences Po in Paris. Ein fortdauernder Verfall des Ölpreises könnte der gebeutelten Nation den Rest geben. „Ursache dafür ist nicht das Jahr 2020. Die Ursachen liegen in Vetternwirtschaft, Nepotismus und Korruption der letzten zwanzig Jahre.”
unserem Korrespondenten Martin Gehlen aus Tunis