Der 1. Mai steht im Schatten der Coronakrise – in Österreich, in ganz Europa. Und die SPÖ steht im Schatten der medialen Hegemonie einer Regierung, der sie nicht angehört. Seit 1945, in den 75 Jahren der Zweiten Republik, ist dies erst das 13. Mal, dass die SPÖ den „Tag der Arbeit“ als Oppositionspartei begeht. Dass die Feiern erstmals seit 1945 nicht öffentlich stattfinden können, unterstreicht – atmosphärisch – einen vielfachen Bedeutungsverlust. Die SPÖ ist weniger wichtig geworden. Sie ist fester Bestandteil der österreichischen Demokratie und deren politischer Kultur, die sie mitgeschaffen hat; aber sie hat weniger Definitionsmacht als je zuvor.
Die ersten (provisorischen) Regierungen der Ersten und der Zweiten Republik wurden von einem sozialdemokratischen Kanzler geführt – von Karl Renner. Und wohl kaum ein anderer hat die Republik nach 1945 so geprägt wie der Sozialdemokrat Bruno Kreisky. Am 1. Mai 2020 ist der politische Diskurs von einem konservativ-türkisen Kanzler bestimmt, und die Republik hat ein Staatsoberhaupt, das aus den Reihen der Grünen kommt. Am 1. Mai 2020 fehlt die Sozialdemokratie in der ersten politischen Reihe des Landes.
Keine Handschrift erkennbar
Als Machtfaktor sichtbar ist die SPÖ auf Länderebene – Wien, Kärnten, Burgenland. Und die sozialdemokratischen Spitzen der Arbeiterkammer und des ÖGB stehen in diesen Tagen im (wieder wichtig gewordenen) Gleichklang mit den Sozialpartnern der Arbeitgeberseite irgendwie brav und domestiziert an der Seite von (türkisem) Kanzler und (grünem) Vizekanzler, um die Botschaft zu unterstreichen, dass „wir alle“ zusammenstehen müssen. Eine sozialdemokratische „Handschrift“ – wo ist sie erkennbar?Das alles ist auch Teil der politischen Folgen der Coronakrise. Es ist weltweit die Zeit der Regierungen, der Exekutive. Es sind die Regierenden, die sich in allen Medien als die um das Gemeinwohl bemühten Macher präsentieren können. Opposition, die ist in Demokratien zwar erlaubt, sie wird öffentlich aber nur am Rande wahrgenommen. Trump und Macron, Merkel und eben auch Kurz nutzen die Krise, um sich fast täglich überzeugend (Merkel, Kurz) oder weniger überzeugend (Trump) als Fels in der Brandung zu stilisieren. Sie zeigen mit souveräner Hand, wie man der gesundheitlichen und sozialen Folgen des Virus am besten Herr werden kann.
Keine klare Linie in Europa
Dass es anderen sozialdemokratischen Parteien nicht viel anders als der SPÖ geht, mag nicht unbedingt helfen, aber macht verständlich, worum es geht. Die SPD praktiziert den Schulterschluss mit Angela Merkel. Der französische PS ist in den Auseinandersetzungen zwischen dem (links)liberalen Präsidenten und einer in sich uneinigen Gewerkschaftsbewegung kaum relevant. Die britische Labour Party versucht, mitten im noch nicht ausgestandenen Brexit-Chaos, an dem Jeremy Corbyn ebenso Anteil hat wie Boris Johnson, so etwas wie ein (neues) Profil zu gewinnen.
Und was immer regierende europäische sozialdemokratische Parteien auch machen – etwa in Spanien oder in Schweden: Es ist keine Linie der europäischen Sozialdemokratie erkennbar. Es gibt zwar eine dänische und eine niederländische Sozialdemokratie – aber wo ist eine europäische?
Längst vorbei sind die Zeiten, die der Liberale Ralf Dahrendorf das sozialdemokratische Zeitalter genannt hat – die Jahrzehnte nach 1945, als fast überall in Westeuropa sozialdemokratische Parteien die politische Agenda bestimmten und andere Parteien sich mehr oder weniger den Vorgaben der Sozialdemokratie anpassten. Der demokratische Sozial- und Wohlfahrtsstaat, die große Errungenschaft Westeuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fußte auf einem vor allem sozialdemokratisch formulierten Konsens.
Rot wird nicht mehr gebraucht
Das ist anders geworden. Der Wohlfahrtsstaat ist in der Defensive, und nationaler Schulterschluss kann auch – wie in Österreich – ohne die Sozialdemokratie geformt werden. Rot wird nicht mehr gebraucht – Türkis und Grün sind die bestimmenden Farbtöne. Welches Alleinstellungsmerkmal hat da noch die SPÖ, und sei es nur im Wettbewerb mit den anderen Oppositionsparteien? Wo wird die SPÖ noch wahr-, wo wird sie ernst genommen? Im Spiel innerparteilicher Intrigen, die der Parteivorsitzenden immer wieder demonstrieren, dass sie von den Männern der Partei nur als Platzhalterin toleriert wird?Vielleicht hilft es der SPÖ, sich an die Anfänge des 1. Mai zu erinnern. Am 1. Mai 1890 demonstrierten Hunderttausende Proletarier, einem Aufruf der eben erst gegründeten Sozialdemokratischen Partei folgend, im Wiener Prater. Die Partei sah sich in einem internationalen Gleichklang – mit Arbeiterdemonstrationen in Chicago und der 1889 gegründeten „Zweiten Internationale“, die den 1. Mai zum „Kampftag“ der Arbeiterbewegung ausgerufen hatte.
Ist eine Arbeiterpartei noch sinnvoll?
Wie viel Internationales ist heute noch spürbar? War bei den 1.-Mai-Aufmärschen der letzten Jahre Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan ein Thema – oder der Einsatz für die Rechte rumänischer Altenpflegerinnen in Österreich? „Internationale Solidarität“ zu verkünden, das ist leicht – wenn es unverbindlich bleibt und nicht an die unmittelbaren Interessen des zum Kleinbürgertum gewandelten Proletariats rührt.
Die SPÖ und die europäische Sozialdemokratie insgesamt sind gelähmt. Ist eine „Arbeiterpartei“ sinnvoll, wenn „Arbeiter“ in Österreich mehrheitlich eine rabiat nationalistische FPÖ wählen – oder, wie 2019, von der türkisen Politik eines Rechtspopulismus bildungsbürgerlicher Salonfähigkeit angetan sind? Gibt es überhaupt noch ein Proletariat – jenseits der Pflichtrhetorik von sozialdemokratischen Sonntagsreden?
Anfälligkeit für nationalistische Parolen
Die österreichische Sozialdemokratie hatte nie wirklich einen Weg gefunden, wie mit der Anfälligkeit für nationalistische Parolen umzugehen wäre. Noch vor 1914 spaltete sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Victor Adlers in eine tschechische und eine deutschösterreichische Partei. Und schon vor 1938 war deutlich, wie sehr es der NSDAP gelungen war, gerade auch ehemalige Sozialdemokraten zu vereinnahmen.
Die SPÖ und die Labour Party wie auch die anderen Parteien der Sozialdemokratie haben Probleme, den Kampfruf „Hoch die internationale Solidarität“ in Alltagspolitik umzusetzen. Jeremy Corbyn gelang es nicht, den europa- und fremdenfeindlichen Parolen Boris Johnsons ein klares Contra entgegenzusetzen. Für Sozialdemokraten ist es offenbar leichter, internationale Solidarität bei Gedenkfeiern für Che Guevara zu deklarieren als eine solidarische, europäisch abgestimmte Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik zu formulieren.
Die SPÖ hat – auf der Grundlage der heute gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse – keine Chance, in absehbarer Zukunft die lichten Höhen der Kreisky-Zeit zu erklimmen. Die Zeiten, die sind eben andere. Die Partei könnte sich aber eine langfristige Strategie erarbeiten, jenseits von Nostalgie und Wunschdenken. Und eine solche Strategie kann wohl nur bedeuten, aus der nationalen Sackgasse herauszufinden – zu einer transnationalen (und das heißt zunächst gesamteuropäischen) Perspektive.
Anton Pelinka