PRO
Regulärer Schulbetrieb ist nicht zuletzt psychisch
stabilisierend. Sobald es aus gesundheitlicher
Perspektive geht, sollten Schulen wieder öffnen, und zwar für alle Kinder, allerdings unter ganz neuen Bedingungen.
Langsam scheint es normal zu sein: Unsere Schulen stehen leer und unsere Kinder sitzen zu Hause. Fest steht, der Schulbetrieb geht allen unheimlich ab, noch nie hatte ein regulärer Schulbetrieb eine so hohe Attraktivität wie jetzt. Die Situation ist jedenfalls einmalig, neu, nicht in bisherige Erfahrungen einordenbar und sehr fordernd. Abgesehen von den allgemeinen Sorgen und Ängsten rund um unsere Gesundheit wird verdeutlicht, worin der Wert der schulischen Bildung liegt.
Zuallererst kommt die soziale Dimension: Lernen und Lernbereitschaft wird von Beziehungen getragen. Das Eingebettetsein in eine lernende Gruppe ist die Grundlage dafür, dass personales Wachstum und damit Leistungsfähigkeit gegeben ist. Je jünger ein Mensch ist, umso eher ist er auf die Gruppe der „Peers“ angewiesen, angeleitet von wohlwollenden Erwachsenen. Schule bietet Struktur und einen gesicherten Tagesablauf. Sie bietet einen Erfahrungsraum jenseits der Eltern. Die meisten Kinder vermissen die tägliche Begegnung mit MitschülerInnen, auch die Auseinandersetzungen und Konflikte.
Gefahr der Abkoppelung
Dann das Lernen: Elterliches Bemühen kann nur in Ausnahmefällen ein Ersatz dafür sein, dass das Lernen mit allen Sinnen und in verschiedenen Gegenständen kontinuierlich und kindgerecht vorangetrieben werden kann. Insbesondere gilt die Sorge jenen Kindern, die durch ihre soziale Situation Gefahr laufen, völlig abgekoppelt zu werden. Je länger die schulfreie Phase dauert, umso größer wird die Gefahr, dass notwendige Förderung gerade dort, wo sie am dringendsten notwendig wäre, nicht passiert. Ganz abgesehen von Jugendlichen, die psychisch belastet sind und sich jetzt sehr einsam fühlen.
Sobald es aus gesundheitlicher Perspektive geht, sollten Schulen wieder öffnen! Dieses „Zurück“ sollte ALLEN Kindern eröffnet werden. Im Vordergrund müssen dann das soziale Lernen und die Förderdimension stehen. Durchgehende Hygiene und körperlicher Abstand sind im Rahmen eines „Gesundheitsunterrichtes“ einzuüben. Ein stufenweiser Wiedereinstieg bedeutet, dass Gruppen verkleinert und Zeiten verändert werden, etwa durch das Teilen von Klassen, die nur jeden zweiten Tag unterrichtet werden, dies maximal am Vormittag.
Bewegungseinheiten werden jetzt in der warmen Jahreszeit, wenn möglich, ins Freie verlegt. Für Kinder mit hohem Förderbedarf könnte es eine „Summer School“ geben (Lehrer geben im Sommer freiwillig Förderunterricht). Auf Tests usw. sollte in diesem Schuljahr gänzlich verzichtet werden.
CONTRA
Niemand kann behaupten, unsere Zukunft hänge von den drei Prozent Schullaufbahn ab, die verloren gegangen wären, hätten wir bis zum Sommer auf Schulstress verzichtet und uns auf die Schwächeren konzentriert.
Wochenlanger Hausarrest kann einem auf die Nerven gehen. Immer häufiger sind Seelen- und Familienfrieden bis zum Zerreißen gespannt. Kinder und Eltern wünschen sich sehnlichst, dass Kindergärten und Schulen wieder für alle öffnen. Meist treffen gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Krisenfolgen gerade jene härter, die ohnehin schon über weniger Ressourcen verfügen. So ist unstrittig, dass beim E-Learning die soziale Schere im Schulbetrieb deutlich weiter aufgeht.
Wäre es daher nicht mit Rücksicht auf die Schwächsten geboten, den regulären Schulalltag wieder aufzunehmen? Ganz im Gegenteil! Hätte man gezielt etwas für diese Zielgruppe tun wollen, hätte man dies seit Anfang der Schulschließungen ohne Schwierigkeiten tun können. Zum einen durch einen Verzicht darauf, den schulischen Lehrplan mit anderen Mitteln durchhalten zu wollen, und zum anderen mit der Aufforderung an alle pädagogischen Kräfte, die kommende Zeit neben dem Notdienst vor allem darauf zu verwenden, besonders Belasteten zu helfen. Hat man aber nicht, sondern zum E-Learning noch die Drohung hinzugefügt, Art und Umfang der Beteiligung könnten sich nachteilig auf die Abschlussnoten auswirken.
Abarbeitung statt Aufarbeitung
Auch bei der angestrebten Wiederöffnung ist nicht primär von sozialer Förderung die Rede, sondern vorrangig sollen Zentralmatura und Abschlussklassen durchgezogen werden. Bei allen wird die Abarbeitung des Stoffs Vorzug vor der Aufarbeitung der Krisenfolgen haben. Zudem werden ohne Not Kinder gefährdet, die selbst oder deren Angehörige Risikogruppen angehören. Damit werden diejenigen, die durch Corona oder das Leben ohnehin schon belastet sind, ein zweites Mal bestraft.
Krisenzeiten befördern den Sozialdarwinismus, der in privilegierten Kreisen gern als „fürsorgliche Belagerung“ daherkommt. Man behauptet, die Zukunftschancen aller zu schützen, obwohl man nur die Konkurrenzfähigkeit des eigenen Nachwuchses meint.
Niemand wird ernsthaft behaupten können, deren und unser aller Zukunft hingen von den drei Prozent gesammelter Schullaufbahn ab, die verloren gegangen wären, wenn wir bis zum Sommer auf den Schulstress verzichtet und uns darauf konzentriert hätten, den Schwächsten zu helfen. Der Forschungslage nach wäre uns allen damit langfristig besser gedient. Zu rechnen ist leider mit dem Gegenteil, nämlich dass in der Schule wie im Leben die Corona-Folgekosten überproportional jenen aufgebürdet werden, die sich am wenigsten dagegen wehren können.