Indien erlebt derzeit die größte Ausgangssperre der Welt: 1, 3 Milliarden Menschen sollen für drei Wochen ihre Häuser nicht verlassen, außer für lebensnotwendige Besorgungen. Wie funktioniert das?
Dharanidharan Selvam CS: Ich lebe in Salem, Tamil Nadu, im Süden Indiens. Es läuft hier vergleichsweise gut ab. Auf der Straße sieht man kaum Menschen, dafür jede Menge Polizisten, die die Ausgangssperre kontrollieren. Aber es passiert auch Unbegreifliches: Mehrere Polizisten holten vor wenigen Tagen einen Mann von seinem Moped - weil er eben unterwegs war - sie fragten ihn nicht einmal, warum er unterwegs sei, sie prügelten einfach wild auf ihn ein. Und dort, wo die Regierung Lebensmittel an Bedürftige vergibt, bilden sich lange Schlangen, da hält niemand Abstand.

In Indien gab es zuletzt knapp 2050 Corona-Infizierte und rund 60 Menschen, die am Coronavirus starben, berichtet die Johns Hopkins Universität: Kann das stimmen, bei so vielen Menschen?
Nein, die Zahlen täuschen, weil nur wenige Inderinnen und Inder getestet sind. Die Dunkelziffer ist enorm. Auch die Quarantänemöglichkeiten in den Spitälern sind nicht ausreichend. Indien gibt rund ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen aus, Deutschland zehnmal so viel - Indien hat eines der miserabelsten Gesundheitssysteme der Welt. Und die große Mehrheit der Bevölkerung hat überhaupt keine Krankenversicherung.

Mehr als 300 Millionen Menschen in Indien leben unter der Armutsgrenze: Was bedeutet das in der Coronakrise?
Zu den 300 Millionen unter der Armutsgrenze kommen noch weitere 400 Millionen Menschen dazu, die im sogenannten informellen Sektor arbeiten, in schlecht bezahlten Jobs. Rund 50 Prozent der indischen Bevölkerung leben in Armut. Als Tuk-Tuk- oder Rikschafahrer oder mit ihren kleinen Brotläden kommen diese Menschen irgendwie über die Runden. Wenn der Staat da nicht sofort unterstützt und Lebensmittel und verteilt, dann überleben diese Menschen die Ausgangssperren nicht. Da braucht es dann kein Covid 19 mehr. Aber am schwersten trifft es die Wanderarbeiter, die Tagelöhner.

Weshalb?
Am Wochenende haben sich Millionen von Delhi in die ärmeren Regionen Uttar Pradesh und Bihar aufgemacht. Es ist abzusehen, dass diese Menschen das Virus in ihre Dörfer tragen. Ein Desaster! Die ärmeren Regionen haben ja eine noch viel schlechtere Gesundheitsversorgung, ein Spital ist oft Dutzende Kilometer entfernt. Vor einigen Tagen strandeten eine halbe Million Wanderarbeiter in Delhi, weil nur 500 Busse für sie bereitstanden. Also machten sich viele von ihnen zu Fuß auf den Weg. Die Polizei konnte nur dastehen und zuschauen. Diese Szenen haben mich sehr an die Flüchtlingskrise 2015 in Europa erinnert, als die Polizei aufgrund des Massenansturms, die Migranten auch einfach nur durchlassen konnte.

Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Abhijit Banerjee sagte im Interview mit „India Today“: „Seid realistisch darüber, was Menschen ertragen können.“ Er verlangt von der Regierung Sozialtransfers, wenn das Land nicht im Chaos landen will.
Indiens Wirtschaft konnte schon vor der Coronakrise mit einem Wort zusammengefasst werden: Chaos. Indien ist aber auch das Land der Jungen: Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung ist unter 26, das sind doppelt so viele Menschen, wie die USA Einwohner haben. Und ihre größte Sorge ist, was nach der Coronakrise auf sie zukommt.

Dharanidharan Selvam CS
Dharanidharan Selvam CS © Dharani