Das Jahr 2019 geht zu Ende. Ein beliebiger Termin. Bloß eine Sache des Kalenders. Es geht aber auch ein Jahrzehnt zu Ende, in dem wir unsere Irrtümer korrigieren mussten: unsere hochfliegenden Erwartungen, die den Umstand, dass wir in der Luxusecke der Welt leben, zuweilen noch hinter sich gelassen haben.
Vor dreißig Jahren, im Jahr 1989, waren kühne Erwartungen gerechtfertigt. Zusammenbruch der Weltordnung des 20. Jahrhunderts, Ende des sozialistischen Totalitarismus, Aufhebung der Ost-West-Spaltung, deutsche Wiedervereinigung, Frieden. „Ende der Geschichte“: Die ganze Welt macht westliche Marktwirtschaft und wird reich. Die ganze Welt macht Demokratie und wird frei. Das war ein Irrtum: Der chinesische Brutalkapitalismus ist mit Diktatur vereinbar. Rascher als erwartet vollzieht sich der Niedergang der USA: Der gegenwärtige Präsidentendarsteller macht nicht nur aus dem Amt, sondern aus dem ganzen Land eine Karikatur. Die Demokratisierung der Staatenwelt wird teilweise zurückgedreht. Keine Friedensdividende, sondern neue Aufrüstung. Kriege im Nahen Osten, Scheitern der arabischen Rebellionen, Terrorzeitalter.
Um 1999 konnte man Europa als „Erfolgsgeschichte“ bezeichnen: Union, Schengen, Euro, Erweiterung. Man erwartete sich eine rasche wirtschaftliche Konvergenz der Mitgliedsstaaten. Man bejubelte die Ausweitung der Demokratie nach Ost- und Südeuropa. Der unschöne Balkankrieg schien zu den letzten Zuckungen der alten Welt zu gehören. Ansonsten: ein neues Europa, eine starke Union, Weltmacht.
Das war ein Irrtum. Die Transformation der postkommunistischen Länder hat sich zwischen Geheimdienstlern, Korruptionisten und neuen Oligarchen abgespielt, die Sehnsucht nach neuem Autoritarismus scheint mancherorten zu wachsen. Die europäische Peripherie kommt wirtschaftlich nicht in die Gänge, die Menschen wandern ab. Der Westteil zerbröselt: Unverantwortliche Politik haben wir in Griechenland erlebt, Zerrissenheit in Spanien, Irrationalismus in Italien. Und das Brexit-Erlebnis stellt alles in den Schatten, weil es eine seinerzeit mächtige, ernsthafte und pragmatische Demokratie betrifft, für die nunmehr keines dieser Attribute mehr zutrifft. Schottland und Irland: ungeklärt. Sobald Macron zukunftsträchtige Politikmaßnahmen setzen will, füllt er die Straßen. „Weltpolitikfähigkeit“ gewinnt man so nicht.
Um die Jahrhundertwende war die Illusion der besseren Welt noch gerechtfertigt. Es konnte nur besser werden. Russland keine Bedrohung, China als Werkbank des Westens unterwegs, Türkei auf dem Weg in die EU. Selbst der Balkan schien beruhigt. Und die Wirtschaft brummte: Ende des Konjunkturzyklus. Das war ein Irrtum. Um 2009 steckte man in einer für undenkbar gehaltenen Weltwirtschaftskrise, und in der Folge entfaltete sich die fatale Krisensequenz: von der Immobilienkrise zur Bankenkrise, Staatsschuldenkrise, Europakrise.
Ein einschneidendes Erlebnis war schließlich die Migrationskrise 2015, die einen neuen Grundton im Politikgespräch anschlagen und den Aufstieg neoautoritärer politischer Bewegungen befördern sollte. Also auch Demokratiekrise: Epoche der Politikgaukler. Vorläufer gab es von Berlusconi bis Haider, aber Trump und Johnson sind natürlich geschichtsträchtige Highlights im Katalog von kaltschnäuzig-verrückten Politikern. Russland hat wieder Großmachtambitionen, ohne wirtschaftliche Basis. Der Ukrainekonflikt bleibt bestehen. Die Türkei macht Diktatur. China überholt den Westen. Der Balkan bleibt unversöhnt.
Nach der Jahrhundertwende hatte man noch gute Erwartungen für Klima und Energie: Waldsterben (Schwefel) und Ozonloch (FCKW) bekam man in den Griff, ansonsten gab es zwar Verzögerungen, aber mit einiger Anstrengung würde man in ein „grünes Jahrhundert“ voranschreiten können. Das war ein Irrtum. Denn nun wurde Fracking entwickelt, die großen Staaten haben ihr Desinteresse an der Klimapolitik erklärt, eine Konferenz nach der anderen scheitert. Trotz Aufmerksamkeitshochkonjunktur durch den Greta-Effekt wird das 21. Jahrhundert kein grünes, sondern ein schwarzes, fossiles, am Ende mit vier Grad mehr. Elektroautos, die mit fossilem Strom betrieben werden, sind Bluff. Das Angebot von Wind und Sonne landet bei unlösbaren Speicherproblemen beim Gaskraftwerk. Weltweit sind 1400 Kohlekraftwerke in Bau. Die globale Energieproduktion ist zu drei Vierteln fossil, und die fossile Vorherrschaft wird man nicht durchbrechen. Es empfiehlt sich, mit den Planungen für die Erwärmungsfolgen zu beginnen.
Die Migrationsfrage hat man eine Zeit lang mit Multikultur- und Diversitätsideologie zugedeckt. Offene Grenzen. Integration läuft, weil sie vernünftig ist. Das war ein Irrtum. Migration ist keine Sache von Syrien-Flüchtlingen, sie wird im 21. Jahrhundert ein Thema bleiben. Afrika wird seine Bevölkerung vervierfachen, die Entwicklung wird damit nicht Schritt halten, das Klima wird schlechter. Wer kann, der geht – in die Paradiese, die man auf dem Smartphone besichtigen kann. Da sind wir allerdings in der Größenordnung von Hunderten Millionen Menschen, die dorthin wollen, wo die ansässige Bevölkerung trotz Reichtum ohnehin rapide schrumpft.
Lebenserwartung steigt, gute Jahre bis ans Ende. Irrtum: Die Pflege am Schluss wird wohl zunehmen, letzten Endes werden das die Roboter machen.
Wissensexplosion, Hochschulpflicht für alle, Klugheit und Kreativität nehmen zu. Irrtum: Bildungsergebnisse sind dünn, selbst Schreiben, Rechnen und Lesen werden zum Problem.
Digitalisierung verbreitet sich rapide: smartes Haus, Wirtschaft 4.0, Informationszugänglichkeit, Entertainment, eine großartige Welt. Irrtum: Plattformen des Hasses entstehen, die Hälfte aller Arbeitsplätze wird beseitigt, Undurchschaubarkeit, Stress. Es wird nicht leicht, mit den Anforderungen Schritt zu halten.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus waren die letzten drei Jahrzehnte eine Epoche des Übergangs. Das ausgehende Jahrzehnt hat uns Ernüchterung vermittelt. Ab 2020 heißt das: mit Disruptionen, Ambivalenzen und Fragilitäten leben lernen – immerhin in der besten Ecke der Welt. Und nach den Irrtümern ist vor den Irrtümern.
Manfred Prisching