Ungeachtet laufender Gespräche über Wege zum Frieden in Afghanistan haben Kämpfer der radikalislamischen Taliban die nördliche Provinzhauptstadt Kunduz angegriffen. Provinzräten zufolge konnten sie mehrere Einrichtungen und Gebiete in der Stadt einnehmen, darunter das Provinzkrankenhaus, die Zentrale der Elektrizitätsversorgung und den dritten Polizeibezirk der Stadt.
Es gebe Tote und Verletzte bei Polizei und Zivilisten, allerdings sei die Zahl unklar. Der Taliban-Sprecher Sabihullah Mujahid erklärte, die Taliban hätten in Kunduz schon mehrere wichtige Gebäude einnehmen können. "Wir sind jetzt in der Stadt und erobern ein Regierungsgebäude nach dem anderen", sagte Mujahid vor Journalisten.
Der Angriff erfolgte inmitten der laufenden Gespräche zwischen den Taliban und den USA über eine politische Lösung des seit fast 18 Jahren andauernden Konflikts. Zuletzt hatten sich beide Seiten optimistisch gezeigt, bald ein Abkommen erzielen zu können.
In Häusern verschanzt
Dem Provinzrat Ghulam Rabbani zufolge begann der Angriff gegen 1.00 Uhr nachts (Ortszeit). Taliban-Kämpfer seien aus mehreren Richtungen in die Stadt vorgedrungen. Die Kämpfer hätten sich in Häusern verschanzt und lieferten sich Gefechte mit den Sicherheitskräften. Luftschläge auf Positionen der Taliban würden deren Vorstöße verlangsamen, sagte Rabbani. Nach Angaben des Provinzrats Maulawi Abdullah war am Samstagmittag (Ortszeit) weiterhin sporadisches Gewehrfeuer in der Stadt zu hören.
Die afghanische Polizei und Armee befänden sich in der Defensive, da sie das Leben von Zivilisten schützen wollten, sagte Rabbani. Der Strom in der Stadt sei abgestellt worden, Telekommunikationsverbindungen seien unterbrochen.
Regierung schickt Spezialkräfte
Einem Regierungssprecher zufolge wurden Spezialkräfte der Polizei in die Stadt entsandt. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Luftschlägen und Bodenoperationen rund 40 Taliban-Kämpfer getötet. Diese Zahlen konnten jedoch nicht überprüft werden. Regierungsbeamte sind dafür bekannt, Opferzahlen der Taliban zu übertreiben.
Der Fernsehsender ToloNews berichtete, Dutzende Menschen seien aus ihren Häuser geflohen. Bilder in sozialen Medien zeigten geschlossene Geschäfte und verlassene Straßen.
Sowohl die Taliban als auch die Sicherheitskräfte der Regierung erklärten, Kämpfer der jeweils anderen Seite hätten sich ihnen ergeben. In einem von Taliban geteilten Video waren Kämpfer zu sehen, die einen verlassenen Polizeiposten ausräumten und Munition, kugelsichere Westen und Computerausrüstung in ein Polizeiauto luden. Die Echtheit dieses Videos konnte aber nicht überprüft werden.
Deutsche Soldatentruppe vor Ort
Die Taliban kontrollieren weite Teile der Provinz Kunduz, in der bis vor einigen Jahren noch die deutsche Bundeswehr als Schutzmacht stationiert war. Im Rahmen der NATO-Mission "Resolute Support" ist eine kleine Gruppe von deutschen Soldaten weiterhin dort, um die afghanische Armee zu beraten.
Die nahe der Stadt stationierte Bundeswehr war nach Angaben des Einsatzführungskommandos in Potsdam von den Kämpfen nicht betroffen. Im dortigen Lager "Pamir" befinden sich derzeit rund 80 Soldaten. Insgesamt sind in Afghanistan noch 1200 deutsche Soldaten im Einsatz.
Kunduz-Stadt war bereits im Herbst 2015 und 2016 kurzzeitig an die Taliban gefallen. Provinzräte sagten am Samstag, sie hätten in den vergangenen Wochen und Monaten mehrmals vor einem erneuten Angriff der Taliban auf die Stadt gewarnt.
Mehrere Angriffe bereits am Freitag
Erst am Freitag hatten die Taliban in mehreren Bezirken der Nachbarprovinz Takhar massive Angriffe auf die Sicherheitskräfte durchgeführt. Provinzräten zufolge konnten sie Teile des Bezirkszentrums von Chah Ab erobern, griffen eine Basis der Sicherheitskräfte im Bezirk Baharak an sowie Polizeikräfte im Bezirk Darkad. Dutzende Sicherheitskräfte seien dabei ums Leben gekommen, allerdings gebe es keine genauen Angaben.
Die jüngste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA hatte vor acht Tagen in Doha begonnen. Bei den Gesprächen geht es vor allem um Truppenabzüge sowie Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicher Hafen für Terrorismus wird. Die Gespräche sollen in offizielle Friedensgespräche der Regierung in Kabul mit den Taliban münden.
Die USA, die vor fast 18 Jahren in Afghanistan einmarschiert waren, verhandeln seit einem Jahr mit den Taliban über ein Ende des Konflikts. US-Präsident Donald Trump hatte am Donnerstag angekündigt, dass auch nach einem möglichen Friedensabkommen mit den Taliban zunächst 8600 US-Soldaten in dem Land bleiben sollen.