Berlin, 1. September 1939, 10 Uhr. In der Krolloper versammelt sich der Reichstag des Großdeutschen Reichs. 1931 war die letzte Oper in diesem Gebäude aufgeführt worden, Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“. Dann wurde die Oper aus finanziellen Gründen geschlossen. Nach der Brandstiftung im Reichstagsgebäude in der Nacht auf den 28. Februar 1933, von den Nationalsozialisten genützt, um die Verfassung außer Kraft zu setzen und die Opposition auszuschalten, beherbergt die Krolloper nun den „teuersten Gesangsverein Deutschlands“, wie der Volksmund den Reichstag nennt. Die Tätigkeit der vom Nazi-Regime eingesetzten Abgeordneten reduziert sich vor allem darauf, Erklärungen des Reichskanzlers anzuhören, danach die Nationalhymne und das „Horst-Wessel-Lied“, die Nazi-Hymne, abzusingen.



An diesem 1. September werden die Mitglieder des Reichstags erst um 3 Uhr früh nach Berlin beordert. Sieben Minuten nach 10 Uhr eröffnete Hermann Göring – Reichstagspräsident, Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe – die Sitzung. Der Rundfunk überträgt aus der Krolloper. Es gibt nur einen Tagesordnungspunkt. Die Rede des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler. Er tritt an diesem Tag erstmals statt in seiner braunen Parteiuniform in einem feldgrauen Waffenrock auf. In abgehackten Sätzen verkündet er: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.“ Nach der Rede springen die Mitglieder des Reichstags begeistert auf, recken die rechten Hände in die Höhe, singen die Hymnen.

Kriegsbegeisterung kam verzögert

Anders als zu Beginn des Ersten Weltkrieges jubelte diesmal die Bevölkerung nicht. In Berlin, so wird überliefert, herrschte auf den Straßen eine bedrückte Stimmung. Die Kriegsbegeisterung kam schließlich verzögert, sie wuchs mit den Siegesmeldungen.
Der von Hitler verkündete Kriegsanlass wurde einfach hingenommen. Dabei stimmte nichts von dem, was der Reichskanzler in der Krolloper gesagt hatte. Es waren pure Lügen. Nicht die Polen hatten in der Nacht davor auf deutschem Territorium geschossen. Die 14 angeblichen Grenzverletzungen waren entweder erfunden oder selbst inszeniert. Die getöteten Deutschen waren Häftlinge aus den Konzentrationslagern, in SS-Uniformen gesteckt, bevor man sie erschoss. Die vermeintlichen polnischen Soldaten, das waren verkleidete SS-Männer.

Adolf Hitler bei einer Rede im Jahr 1937
Adolf Hitler bei einer Rede im Jahr 1937 © AP

An diesem 1. September 1939 schoss die deutsche Wehrmacht nicht zurück – sie feuerte zuerst. Und sie bombardierte. Vor 5.45 Uhr. Schon eine Stunde früher fielen 29 Sturzkampfbomber mit ihren kreischenden Sirenen über Wielu(´n) her. In der polnischen Kleinstadt, rund 20 Kilometer von der Grenze entfernt, lebten 16.000 Einwohner. Bei drei Angriffen der deutschen Luftwaffe starben 1200 Zivilisten, 70 Prozent der Gebäude der Stadt wurden zerstört. Zur gleichen Zeit, auch vor 5.45 Uhr, feuerte das vor Danzig liegende Linienschiff „Schleswig-Holstein“ los. Mit eineinhalb Millionen Soldaten fiel die Wehrmacht in Polen ein. Ohne Kriegserklärung. Adolf Hitler wollte diesen Krieg unbedingt, er zwang ihn herbei.



Schon 1938 war er bereit, sein Land in einen Krieg zu stürzen. Ins Visier geriet die Tschechoslowakei. Die Sudetendeutschen warteten darauf, heim ins Reich geholt zu werden, wie zuvor Österreich. „Es ist mein unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“, erging am 30. Mai 1938 Hitlers Befehl an die Wehrmacht. In der regte sich Widerstand. Generäle planten, Hitler bei einem Angriffsbefehl auf die Tschechoslowakei festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Doch aus diesem Krieg wurde nichts, damit auch nichts aus dem Umsturz. Vermittelt von Italiens Duce Benito Mussolini, lieferten Frankreichs Ministerpräsident Édouard Daladier und der britische Premierminister Neville Chamberlain bei der Münchner Konferenz das Sudetenland Nazi-Deutschland aus.

Deutsche Panzer am 1. September 1939 in Polen
Deutsche Panzer am 1. September 1939 in Polen © APA/AFP/- (-)



Hitler triumphierte, die anderen hofften. „Peace in our time“ (Friede für unsere Zeit), rief Chamberlain bei seiner Rückkehr in London. Fünfeinhalb Monate später holte sich Hitler trotzdem den Rest der Tschechoslowakei. Er drohte dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Emil Hácha, Prag in Schutt und Asche zu legen. Der 67-jährige, schwer herzkranke Mann kapitulierte. England und Frankreich mobilisierten ihre Streitkräfte nicht. Aber sie versprachen, Polen im Falle eines Angriffs beizustehen. Der Knackpunkt mit Polen lag längst am Tisch: die Freie Stadt Danzig, nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland abgetrennt und unter Verwaltung des Völkerbundes. Diese Stadt wollte Hitler wieder Deutschland einverleiben, verbunden mit einer exterritorialen Autobahn durch polnisches Gebiet. Der Konflikt um Danzig war bloß vorgeschoben. Schon am 23. März 1939 sagte Hitler vor einer Gruppe höchster Offiziere: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht, es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraums im Osten.“ Diesmal regte sich in der Generalität kein Widerstand gegen den Krieg.

Für seine Kriegspläne gegen Polen war Hitler sogar bereit, seiner Kommunistenhatz abzuschwören, sich mit dem verteufelten Erbfeind Josef Stalin und der Sowjetunion zu verbünden. Um nicht bei einem militärischen Konflikt mit Polen von England und Frankreich auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite zerrieben zu werden. Stalin hatte Monate vorher in einer Rede Deutschland die Hand entgegengestreckt. Hitler griff zu. Am 23. August 1939 schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion in Moskau einen Nichtangriffspakt. In einem geheimen Nebenprotokoll teilten sie sich Polen und Osteuropa auf.

Hitler schätzte die Lage völlig falsch ein

Zum gleichen Zeitpunkt befand sich übrigens auch eine britisch-französische Militärkommission zu Verhandlungen in Moskau. Nach diesem diplomatischen Erfolg schätzte Hitler die Lage völlig falsch ein. Er glaubte, nach Abschluss des deutsch-sowjetischen Pakts müssten die Regierungen in London und Paris wanken. Sie taten es nicht. Der für 26. August festgesetzte Angriff auf Polen wurde schließlich kurzfristig wieder abgesagt, weil der Bündnispartner Italien mitteilte, für einen Krieg noch nicht gerüstet zu sein. Hitler verlegte den Überfall auf den 1. September: An diesem Freitag begann der Krieg um 4.45 Uhr.
3. September 1939: Die deutschen Truppen standen bereits tief in Polen. In Berlin übergab der britische Botschafter ein Ultimatum. Falls der Angriff nicht sofort gestoppt würde, bestehe ab 11 Uhr zwischen Großbritannien und Deutschland der Kriegszustand.

Die deutsche Wehrmacht in Polen
Die deutsche Wehrmacht in Polen © (c) AP



Wie ein ertappter Hasardeur fragte Hitler seinen Außenminister Joachim Ribbentrop, einen ehemaligen Sekthändler: „Was nun?“ Der zuckte die Achseln: „Ich nehme an, dass Frankreich ein gleichlautendes Ultimatum überreichen wird.“ Der Diktator hatte es schon für möglich gehalten, dass England und Frankreich Ernst machen könnten. Aber aus den Erfahrungen der letzten Jahre hielt das deutsche Regime die Gefahr für gering. Hatten die beiden Mächte nicht doch immer eingelenkt? Beim Einmarsch in das nach dem Ersten Weltkrieg entmilitarisierte Rheinland, beim Einmarsch in Österreich, bei der Vernichtung der Tschechoslowakei. Frankreich und England zögerten auch jetzt, anzugreifen, um Polen zu entlasten.

Im Westen begann der „Sitzkrieg“. Indes waren die Deutschen in Polen auf dem Siegeszug. Binnen 18 Tagen brachten sie im Wesentlichen das Land unter Kontrolle. Die Sowjetunion holte sich ihren Teil von Polen. Am 6. Oktober kapitulierten die letzten polnischen Truppen. In die eroberten Gebiete rückten die Mordkommandos der SS nach – die Massaker an den Juden begannen. In Berlin wälzten Hitler und seine Generäle den nächsten Kriegsplan – den Angriff im Westen.

Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands. Adolf Hitler hatte sich nur wenige Tage zuvor umgebracht.

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Unser Magazin „1945: Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik“ © Kleine Zeitung