Fünf Stunden. Um diese Zeitspanne verzögerte sich der Beginn der dritten Gipfelrunde zum Personalpoker und in dieser Zeit fielen in einer Reihe von Einzelgesprächen jene Entscheidungen, auf die man seit der EU-Wahl gewartet hatte – mit unerwarteten Namen.
Der Vorschlag, auf den sich die 28 Staats- und Regierungschefs schließlich verständigten, sieht die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) als Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission vor. Der liberale belgische Premier Charles Michel wird demnach für Donald Tusk als Ratspräsident nachrücken, der spanische sozialistische Außenminister Josep Borrell, früher schon einmal EU-Parlamentspräsident, soll Außenbeauftragter nach Federica Mogherini werden.
Ebenfalls im Paket ist die Französin Christine Lagarde (derzeit Chefin des Internationalen Währungsfonds), die zur Leiterin der Europäischen Zentralbank (EZB) gemacht werden soll. Offen blieb zunächst, wer Präsident des Europäischen Parlaments werden sollte – das Parlament wird darüber selbst heute abstimmen.
Vier Kandidaten gehen ins Rennen um den Posten des Präsidenten des Europäischen Parlaments: Die deutsche Grüne Ska Keller, die Spanierin Sira Rego (Linkspartei), der Italiener David-Maria Sassoli und der Tscheche Jan Zahradil.
EVP-Fraktionsführer Manfred Weber empfielt seiner konservativen Parteienfamilie, für einen sozialistischen Parlamentspräsidenten zu stimmen. Es liege nun an den Sozialisten, einen Kandidaten zu präsentieren, sagt Weber in Straßburg.
Der Sozialdemokrat Frans Timmermans, derzeit Vizepräsident der Kommission, war auch als Spitzenkandidat angetreten und gab gestern bekannt, dass er nicht ins Parlament wechseln wird. Er bleibt in der Kommission, ebenso die liberale Kandidatin Margrethe Vestager. Die Wettbewerbskommissarin wird, so hieß es, auch in den Rang einer Vizepräsidentin aufsteigen.
Das Spitzenkandidaten-Modell gilt mit dieser Variante als gescheitert. Die Frage ist, wie nun das EU-Parlament, das sich klar darauf festgelegt hatte, reagiert. Das Parlament muss dem Vorschlag zustimmen – und kann die Kommission als Ganzes auch ablehnen. Allerdings wurde es in Brüssel als geschickter Schachzug gewertet, dass mit Ursula von der Leyen erstmals eine Frau an die Spitze der EU käme; das ist auch vom Parlament schwer zurückzuweisen.
Offenbar war es Emmanuel Macron, der von der Leyen ins Spiel brachte, was wie eine deutsch-französische Idee wirkt. Der französische Präsident war es aber auch, der sich mit aller Kraft gegen Manfred Weber gestemmt und damit Angela Merkel unter Druck gebracht hatte.
Merkel, die sich ohnehin nur verhalten hinter Weber gestellt hatte und ihn zuletzt sogar für den Sozialdemokraten Timmermans geopfert hätte, kann nun entspannt nach Hause fahren: Eine Deutsche an der Spitze der EU (zum ersten Mal seit den Gründungsjahren) und vielleicht auch noch ein Deutscher als Parlamentspräsident ist keine schlechte Bilanz für einen Personalpoker, der bereits völlig verloren schien.
Zustimmung von Visegrád-Staaten
Noch während der Gipfel im Gange war, trafen erste Reaktionen ein. Zustimmung gab es umgehend aus Italien und aus Ungarn, das auch die Stimme der Visegrád-Staaten ist. Der Vorsitzende der europäischen Grünen, Reinhard Bütikofer, kritisierte hingegen den Vorschlag. Er schrieb ironisch auf Twitter, von der Leyen nach Brüssel zu schicken sei „eine sehr gute Lösung“ – aber nur „für die Bundeswehr“. Im Verteidigungsministerium hatte von der Leyen zuletzt mit einer Reihe von Affären zu kämpfen.
Der heftigste Widerstand regte sich umgehend unter den Sozialdemokraten, die sich wohl übervorteilt fühlen. Der frühere SPD-Chef und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sprach von einem „Sieg von Viktor Orbán und den Osteuropäern“: „Sie haben Frans Timmermans verhindert, der für die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien in der EU steht.“ Der Spitzenkandidaten-Prozess sei damit tot. Auch der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann hält von der Leyen für „nicht akzeptabel“. Im Europaparlament wurde der Widerstand verstärkt: „Sehr klares Nein, Mehrheit nicht bereit, den derzeitigen Deal über EU-Topjobs zu unterstützen“, twitterte die stellvertretende S&D-Vorsitzende Tanja Fajon.
Mit Spannung blickt man also heute nach Straßburg, wo es vorerst um den Präsidenten geht: Laut Geschäftsordnung benötigt ein Kandidat in den ersten drei Durchgängen die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen. Erreicht das kein Bewerber, treten im vierten Durchgang die beiden Bestplatzierten zur Stichwahl an.