Seit Monaten wird das Schicksalhafte der französischen Wahl beschworen. Steht heute wirklich Europas Zukunft auf dem Spiel?
PETER HANDKE: Sagt man das? Europa kann nicht zugrunde gehen. Europa muss anders gedacht werden.
Wie anders?
Tut nicht so scheinheilig! Mit der Zerstörung Jugoslawiens ist Europa längst verschwunden. Das ist wohl klar. Und jetzt haben wir das Wirtschaftseuropa.
Ist das schlecht?
Wirtschaft ist gut und essenziell. Ohne Markt gibt es keine Zusammenkunft. Markt kann etwas unglaublich Freundschaftliches sein, wie eine gute Beziehung. Zum Markt gehört Seele. Aber diese Art von Markt, der von nationalistischen Horizonten bedroht ist, kann keine Seele erzeugen.
Bei unserem letzten Gespräch über Frankreich sprachen Sie vom stillen Amoklauf der Verlorenen. Woher kommt dieser tiefe Hass auf die Eliten, den Marine Le Pen für sich nutzbar macht?
Das ist kein Hass. Das sind viele gutwillige Menschen, vife Menschen, die sehr viel arbeiten. Ich war unlängst in einer Bar. Da lief im Hintergrund stumm das Fernsehen. Zu sehen war Marine Le Pen auf der Landwirtschaftsmesse und dazu der Untertitel: „Die Unzufriedenheit der Franzosen bringt ihr die Sympathie.“ Ich nehme das nicht so wahr. Die Leute haben gar keine Sympathie für diese Frau. Sie haben einfach genug von dieser Art von Politik, von dieser Art von Staat, von dieser Art von Elite. Denken Sie nur an die ungeheuerliche Steuerlast, die die Leute zu tragen haben!
Dürfen Sie heute wählen?
Ich kann hier nicht wählen und würde es auch gar nicht. Ich bin einfach im Fokus des Staates. Ich zahle noch und noch. Ist ja auch richtig. Aber es ist viel.
Rührt von daher Ihr Verständnis für die Verbitterung der Leute?
Ich bin von außen, Ich habe damit nichts zu tun. Aber ich sehe, wie der Staat die Leute niederdrückt. Man denkt immer, Staat muss auch Hilfe sein. Aber in Frankreich gibt es kein Gleichgewicht zwischen dem Guttun des Staates und dem Staat als Gewalt. Der französische Staat ist ein unglaublich harter, ein nicht gutwilliger Staat. Das erlebt man gerade an den Rändern der Stadt, in den Banlieues.
Auch Sie leben in der Vorstadt. Was nehmen Sie dort wahr?
Das System der Banlieues ist erst dadurch entstanden, dass die Leute von den Rändern nicht mehr in die Stadt kommen. Paris ist unerreichbar, unerschwinglich und fremd für sie. Jahrzehntelang waren sie ausgeschlossen von Paris. Das ist ein riesiges Verbrechen des Staates. Und wenn sie jetzt reinfahren: Nach jedem Schritt eine Kontrolle: „Zeigen Sie Ihren Personalausweis!“ Da ist eine unauflösbare Feindschaft da. Ich kann den Groll verstehen. In meinem Leben, wenn ich die Polizei gebraucht habe, war sie nie da. Und wenn ich sie nicht gebraucht habe, war sie da. So wie die Kontrolleure im Zug.
Das ist aber ihr Daseinszweck, dass die Kontrolleure da sind, wenn man sie nicht braucht.
Die Vorortzüge funktionieren überhaupt nicht mehr. Es ist unbeschreiblich, was die Leute erdulden müssen. Und wenn die Züge dann nach zwei Wochen wieder gehen, fallen die Kontrolleure zu acht lautstark im Waggon ein und man kann nicht mehr weiterlesen und auch nicht weiter aus dem Fenster schauen. Die schreien, weil sie Angst haben. Deshalb erscheinen sie nur noch in Gruppen. Das Einzige, was funktioniert, ist die Kontrolle. Die Leute sind einfach resigniert. Schon wieder kein Zug. Da steht immer nur „Supprimé – ausgefallen“. Und dann sagt man ihnen: „Es gibt Taxis. Nehmen Sie Uber oder gehen Sie zum Montparnasse.“ Aber von dort fahren auch keine Züge mehr.
Ist das, was Sie beschreiben, ein Sinnbild für das Auseinanderfallen der Gesellschaft im Land?
Immer wieder gibt es einzelne gute Samariter. Aber gesellschaftlichen Zusammenhang gibt es keinen mehr. Nur mehr als Schein im Fernsehen. Im Fernsehen sind alle freundlich und lachen. Ich weiß nicht, warum in Gesprächsrunden immer alle lachen. Ich denke oft, man müsste diesen lachenden Typen eine runterhauen, damit sie von den Bühnen und aus dem Fernsehen verschwinden.
Was wird aus dem Land?
Das Land ist ein gutes Land. Es ist das Land der Dichter und Denker, der Maler und Musiker. Es ist das Land von Pascal, Racine, Flaubert, Poussin und Voltaire. Aber wenn man den Staat im Alltag erlebt, dann ist das nicht mehr dieses Land. In der Picardie, auf dem Land, wo ich oft bin, spüre ich, dass viele für Le Pen sind. Aber eigentlich sagen sie nur, das Volk muss an die Macht. Aber was ist das Volk? Es bliebt immer unentdeckt. Die Linken haben alte Sprüche ans Volk, und die Rechten wissen überhaupt nicht, was es ist. Dabei gibt es nichts, was so sehr Volk macht wie eine gute, lebende, belebte und belebende Sprache. Ich denke mir oft, wenn es doch nur einen Politiker gäbe, der diese Sprache spricht.
Le Pen, die Volkstribunin, spricht sie nicht?
Aber nein, um Gottes willen. Die weiß nicht, was der Andere ist. Die geht zehn Stunden auf die Landwirtschaftsmesse und streichelt jede Kuh. Aber das genügt nicht.
Und Macron, der Favorit?
Das ist ein Schlauer.
Was bleibt vom scheidenden Präsidenten François Hollande?
Die schiefen Krawatten.
Mehr nicht?
Er hatte ja einen guten Willen. Im strömenden Regen stand der herum bei irgendeiner nationalen Feier und die Brillen waren ganz nass. Aber das ist zu wenig. Ein Politiker muss Sprache haben. Oder denken Sie an Manuel Valls, den früheren sozialistischen Premier! Der hatte eine Sprache wie ein Unteroffizier im Kasernenhof: Der Staat, der Staat, ich bin der Staat. Das sind völlig sprachlose Menschen.
Sehen Sie einen Politiker, der an Ihr Ideal herankommt?
Schon lange nicht mehr. Philippe Séguin, der früh verstorbene Gaullist, das war eine Person. Es muss eine Persönlichkeit sein. Und es müssen auch Patrioten sein. Es gibt einen Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus.
Wo verläuft die Grenze?
Ich kann gut verstehen, dass man das Land bedroht fühlt – als Land, als Sprache, als Ordnung und Miteinandersein im speziellen Sinn, wie es jedes Land hat. Und in dieser Eigenart kann es jedes andere Land bereichern. Das wäre Europa. Das wäre mein Europa. Und das nenne ich Patriotismus, Patrioten ohne Ismus. Aber damit hat eine Le Pen nichts im Sinn.
Wenn es niemanden gibt, der Frankreich retten kann, was hält Sie noch hier?
Die Gegend, das Haus, der Garten. Für die bin ich verantwortlich.
Kann man den Garten, das Kleinteilige, wie Sie sagen, feiern, wenn die Welt aus den Fugen ist?
Das höre ich jeden Tag dreimal, dass die Welt aus den Fugen ist. Ich glaube es nicht. Wenn ein Junger wegen des Systems hier zugrunde geht, dann ist die Welt aus den Fugen. Dann ja. Wenn Kindern befohlen wird, sie müssten sich darauf einstellen, im Leben verschiedene Berufe erlernen zu müssen und diese ständig zu wechseln. Man sagt ihnen, sie hätten sich darauf vorzubereiten, dass sie jetzt Kellner sind und später einmal Assistenten beim Zahnarzt. Und alle haben ihre Matura, und viele ihr Studium. Das ist unerträglich. Das geht nicht. Diesen jungen Menschen muss man eine Zukunft geben in Frankreich wie in Österreich.