I hre Vision ist eine Welt ohne Armut, in der nur noch Armutsmuseen an das Elend erinnern. Sie gründeten dafür in Bangladesch die Grameen Bank für Mikrokredite für Social Business mit Verzicht auf Profit. Genügt es, das Finanzsystem so zu ergänzen, wenn laut Welternährungsorganisation FAO 925 Millionen Menschen hungern?
MUHAMMAD YUNUS: Genau das wollen wir eliminieren. Die Zahl der Hungernden ist global groß. Wenn Sie aber Dorf für Dorf an das Problem herangehen, wird es leichter. Bangladesch hat Tausende Dörfer. Wenn Sie in einem Dorf mit 1000 Familien 200 Familien haben, die extrem arm sind, und sie können diese Zahl jährlich um zehn senken, sind sie einmal am Ziel. Das Millenniumsziel der UNO, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren, werden wir in Bangladesch erreichen.
Akuten Hunger schüren Finanzspekulationen, die ab 2010 Weizen-, Mais- und Reispreise massiv erhöhten. Weil Finanz-, Nahrungs-, Gesundheits-, Energie- und Klimakrise ineinandergreifen, spricht der französische Philosoph Edgar Morin von einer Polykrise. Wie kommen wir ihr bei?
YUNUS: Weil diese Geschäfte nicht limitiert sind, werden sie von Leuten missbraucht. Man sagt, dafür muss es soziale Verantwortung geben. Ich frage: Warum brauchen wir überhaupt soziale Verantwortung? Niemand hat gesagt, dass es das Recht auf soziale Verantwortungslosigkeit gibt. Kapitalismus hat nicht die Lizenz für alles! Wenn sich Menschen mit ihren Fähigkeiten in eine bestimmte Richtung öffnen, ergibt das eine enorme Kraft, um die Welt zu ändern. Die Profitorientierung erlaubt das nicht. Wir haben mit Social Business einen neuen Raum kreiert. Jedes der erwähnten Probleme ist eine riesige globale Herausforderung. Aber wir sind eine globale Community, und wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen, können sie überwunden werden.
Wenn wir die extremen Auswürfe des Raubtierkapitalismus sehen: Reicht es, ihn mit Social Business anzureichern, oder müssen wir ihn nicht viel rigider bändigen?
YUNUS: Kapitalismus ist grundsätzlich in Ordnung, aber sein jetziger Weg schafft Probleme. Der Grund ist, dass man menschliche Wesen völlig einseitig als Geldmaschinen interpretiert, die möglichst schnell Geld machen, um es möglichst schnell auszugeben. Das ist aber kein wahres Bild des Menschen. Nicht der Geruch des Geldes macht ihn glücklich. Zum Selbstantrieb, ein Geschäft zu machen, muss daher die Selbstlosigkeit dazukommen, um Probleme kollektiv zu lösen.
Auf dem Mikrofinanzgipfel in Nairobi 2010 forderten Sie eine neue Ethik für Banken. Konkret?
YUNUS: Man darf niemandem den Zugang zu Finanzdienstleistungen verweigern, nur weil jemand glaubt, er wäre nicht in der Lage, einen Kredit zurückzuzahlen. Wer entscheidet das?
In Europa starren die Regierungen erschrocken auf den Euro, sodass man nicht einmal einig ist für eine Steuer auf Finanztransaktionen, die zu 95 Prozent virtuelle Spekulationen sind. Was raten Sie Europas ratlosen Politikern?
YUNUS: Diese Geschäfte aus dem Nichts haben keine wirkliche Basis, es ist nur Geld und morgen ist es das doppelte. Eine Steuer darauf allein genügt mir nicht. Wichtig ist, was Europa damit macht. Ich schlage vor: Gebt es in Social Business Stiftungen, um Social Business zu finanzieren.
Ist Gier der größte Feind sozial gerechter Finanzsysteme und kann Social Business das durchbrechen?
YUNUS: Im Menschen wohnt Gier, genauso aber auch eine enorme Bereitschaft zu helfen. Gier ist also nur ein Teil des menschlichen Wesens. Aber es wurde ein Finanzsystem geschaffen, in dem Gier besonders belohnt und promotet wurde. Gier wurde nicht nur erlaubt, die Menschen wurden sogar ermutigt, darüber hinauszugehen. Nicht Gier an sich ist schuld, sondern das System, das Gier hervorgestrichen und übertrieben hat.
Der exzessive Neoliberalismus.
YUNUS: Genau. In diesem kapitalistischen System ist die andere Seite, das Helfen, blockiert. Social Business öffnet diese andere Seite. Wir brauchen beides - den persönlichen Antrieb und die Bereitschaft zu helfen und sie sollen sich gegenseitig kontrollieren und ausbalancieren. Das verstehe ich unter Verantwortung und mit der lösen wir auch die Probleme. Unsere Probleme sind nicht von Gott gemacht, die Finanzkrise haben die Menschen entworfen.
Sie fordern mehr Verantwortung des Individuums ein, nicht nur von Staat und Gesellschaft?
YUNUS: Ich beschuldige nicht die Individuen. Es sind gute Menschen. Aber es ist das System, das den schlechteren Teil in ihnen aktiviert hat. Der Rahmen muss sich ändern. Jeder Mensch ist wundervoll und einzigartig, wie ein großes Kunstwerk. Dass dieses Wunder Mensch sich in eine falsche Richtung verhalten muss, ist die Schande.
Immer mehr Menschen artikulieren ihren Unmut wie der französische Wutbürger Stéphane Hessel, der zum Widerstand aufruft gegen die Verursacher von Krisen.
YUNUS: Die Verursacher sind sehr mächtig und üben auch politisch Kontrolle aus. Denken Sie an die Zocker auf den Finanzmärkten. Sie können nicht einmal bestraft werden, weil ihre Spekulationen legal zugelassen waren. Individuen können Widerstand dagegen nur mit politischer Macht leisten. Aber jeder Einzelne kann mit einem Social Business ein Problem aus der Welt räumen. Man muss es nur tun.
INTERVIEW: ADOLF WINKLER