Krisen sind unberechenbar: Sie können eine Gemeinschaft stärken oder sie können sie schwächen. Mit dem vereinten Europa scheint gerade Zweites zu geschehen.

Sowohl die Rückkehr der Schlagbäume in Europa als auch der wachsende Widerstand wohlhabender Länder gegen den Euro-Rettungsschirm sind ein Alarmsignal. Sie zeigen, wie sehr die Fliehkräfte zugenommen haben in Europa.

Denn die Reisefreiheit und der Euro sind keine Nebensächlichkeiten. Sie sind die zwei Dinge, die Europa für seine Bürger im Alltagsleben mehr als alles andere greifbar machen.

Wenn beide Errungenschaften nun von Politikern in Paris, Rom, Helsinki, Bratislava und Kopenhagen aus innenpolitischen Gründen infrage gestellt werden, bedroht das zwar noch lange nicht die Existenz des großen Ganzen. Aber der Rückzug ins Nationale und das schwindende Bewusstsein dafür, ein gemeinsames europäisches Schicksal zu teilen, kommt für aufmerksame Beobachter der EU-Politik der letzten Jahre nicht wirklich überraschend.

"Schengen und der Euro sind beides Gemeinschaftsprojekte, die entgegen der offiziellen Versprechen nicht funktionieren. Wenn Italien, statt seiner Schengen-Pflicht nachzukommen und die Flüchtlinge aus Nordafrika zu versorgen, großzügig Visa verteilt, verletzt es die Geschäftsgrundlagen des Abkommens ebenso wie Griechenland seinerzeit durch Betrügereien die Geschäftsgrundlagen der Euro-Gemeinschaft verletzt hat." Das sagt Jochen Bittner, bis vor Kurzem Europakorrespondent der "Zeit" in Brüssel und Autor des Buches "So nicht, Europa!"

Für EU-Kenner wie Bittner sind die Probleme mit dem Euro und mit Schengen freilich nur die alarmierenden Symptome einer tiefer liegenden Malaise.

Schon lange warnen Geistesgrößen aus Politik, Wirtschaft und Kultur, dass etwas grundsätzlich schiefläuft mit Europa.

Es ist das Unvermögen seiner politischen Eliten und gemeinschaftlichen Institutionen - Rat, Kommission und Parlament -, dem europäischen Staatengebilde eine klare Kontur und klare Ziele zu geben. Denn Friede, Freiheit und Wohlstand werden von vielen Bürgern, insbesondere den nach dem Weltkrieg Geborenen, längst als selbstverständlich hingenommen.

Sanftes Monster Brüssel

Doch statt sich um eine gemeinsame Außenpolitik zu bemühen, um eine gesamteuropäische Einwanderungspolitik, eine nachhaltige Klimapolitik und um mehr wirtschaftliche Abstimmung ihrer Mitgliedstaaten untereinander, schreibt die EU ihren Bürgern vor, welche Glühbirnen sie in ihre Lampen zu schrauben haben. Sie verbietet den Verkauf von Kautabak und will am liebsten gleich für ganz Europa festlegen, wie lange Mütter in Babypause gehen dürfen. "Sie regelt Großes zu klein, und Kleines zu groß, Weiches zu hart und Hartes zu weich. Sie ist oben zu schnell und unten zu langsam" sagt Bittner.

Mit immer neuen Segnungen verschlingt die EU-Bürokratie ihre Bürger, statt die Dinge dort zu regeln, wo sie am besten geregelt werden können, also durchaus auch auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene.

"Sanftes Monster Brüssel" hat Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger sie dafür in seinem jüngsten Essay genannt, in dem er gegen die Entmündigung der Europäer aufbegehrt.

Denn die fatalste Folge davon ist der schleichende Akzeptanzverlust der EU bei den Europäern, auf den die Regierenden Europas aus Angst vor dem Vormarsch rechtspopulistischer Parteien, die sich des Themas bemächtigen, nun ebenfalls mit Europamüdigkeit reagieren.

Dabei ist eines glasklar: Die jetzige Krise wird nur mit mehr und nicht mit weniger Europa bewältigt werden können.