"Das Projekt Europa war eine Reaktion auf die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert", sagt Dieter Senghaas, "es war ein kollektiver Lernprozess, der in meiner und den nachfolgenden Generationen zu Selbstverständlichkeiten geführt hat, die für die Eltern- und Großelterngeneration so kaum denkbar gewesen wären. Das gilt besonders für das deutsch-französische Verhältnis".
Der 73-jährige Sozialwissenschaftler und Friedensforscher wuchs in der damaligen französischen Besatzungszone Südwürttembergs auf. Eine heikle Lage. Allerdings hätten sich schon Anfang der 1950er-Jahre Politiker und Lehrer um einen deutsch-französischen Austausch bemüht. "Fantasien über ,Erzfeindschaften' wurden in unserer Generation nicht gefördert", erinnert sich der Suhrkamp-Autor, der sein "Friedensprojekt Europa" schon 1992 publizierte.
20 Jahre später wurde der EU der Friedensnobelpreis verliehen. Zu Recht? "Ja, wenn es darum geht, die über Jahrzehnte schrittweise institutionalisierte Idee einer nachhaltigen friedlichen Koexistenz auszuzeichnen", erklärt Senghaas. "Das Friedensprojekt Europa wurde in meiner Generation nachhaltig verinnerlicht". Für die nachfolgenden Generationen sei es ein so selbstverständlicher Teil ihrer Sozialisation geworden, dass man es in Oslo offenbar als wichtig empfunden habe, daran zu erinnern, dass die Europäische Union mehr ist als der gemeinsame Euro und ein Staatenbund, der den Export ankurbelt.
"Nie wieder Krieg!" war das weitreichende Motto der Gründungsväter dieses neuen Europa nach den Verheerungen 1914-1918 und 1939-1945. Alte Feindschaften wurden begraben, neue Freundschaften vorangetrieben - vor allem von den Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet gemeinsam mit dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer.
Erzfeinde versöhnt
"Die Chancen, Konflikte friedlich zu lösen, sind heute weit größer als je zuvor in der Geschichte Europas", sagt Senghaas. Die EU sei als Friedensprojekt eine nachhaltige Veränderung unseres Verhaltens im Umgang mit Nachbarn, im Umgang auch mit dem, was wir als fremd wahrnehmen. Doch die europäische Integration hat es nicht nur vermocht, Erzfeinde zu versöhnen. Weit oben auf der Agenda standen stets auch die Beitritte der mittel- und osteuropäischen Länder. 2004 etwa traten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen der EU bei, es folgten Ungarn, Tschechien, die Slowakei - Länder, die mit friedlichen Revolutionen den Kommunismus besiegt und sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt hatten.
Polen spielte dabei eine herausragende Rolle: Ohne den heiliggesprochenen Papst Johannes Paul II. und ohne Lech Walesa und Solidnarnosc hätte es den Fall der Berliner Mauer und des quer durch Europa verlaufenden "Eisernen Vorhang" nicht gegeben, erklären Politologen. Und ohne EU wäre mit dem Zerbrechen der sowjetisch dominierten Regime in der Mitte Europas ein politisches Vakuum entstanden, ein Nährboden für Unfrieden. Da sind sich auch alle einig. Und doch gäbe es freilich immer noch Grauzonen wie die "Kosovo-Problematik", sagt Senghaas, denn nicht alle Konflikte seien beispielhaft geregelt worden wie etwa in Südtirol. Die Hilfestellung von außen sei am Balkan zum Beispiel deshalb noch nicht gelungen, weil das Versagen vor Ort stets schwerer wog.
Aktuelle Abspaltungstendenzen wie jene in Schottland oder in Katalonien bezeichnet Senghaas als "weniger problematisch" für den inneren Frieden innerhalb der EU. "Entscheidend wird sein, ob die EU klug genug ist, trotz des Widerstands von London und Madrid die Neugründungen von kleinen Ländern zu akzeptieren und diese als Mitglieder in die EU aufzunehmen".
Sozialer Zündstoff
Als "gewaltigen Zündstoff" hingegen bezeichnet Senghaas "die sozialökonomischen Ungerechtigkeitsprobleme" innerhalb der Europäischen Union. Siehe das Nord-Süd-Gefälle oder die hohe Jugendarbeitslosigkeit.
In Italien haben 46 Prozent der 20- bis 30-Jährigen keine Arbeit, in Griechenland, Portugal, Spanien sind es noch mehr. Für Senghaas ist das "eine Tragödie, die unverständlicherweise fast schon als Tatbestand, als Dauerzustand" hingenommen werde. Es gäre in der Gesellschaft, "darum ist das Bemühen um soziale Gerechtigkeit für das Friedensprojekt Europa unerlässlich. Ohne dieses Bemühen ist nachhaltiger Friede nicht möglich."
MANUELA SWOBODA