Der Schock sitzt tief, seit EU-Kommissar László Andor die drastische Wirklichkeit der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Misere im Süden der Union vor Augen geführt hat. Doch dieser Schock bei der morgendlichen Zeitungslektüre ist nichts im Vergleich zur harten Realität in Griechenland, Spanien oder Portugal. Die Wut und die Ohnmacht der Menschen entladen sich fast täglich in öffentlichen Demonstrationen und persönlichen Verzweiflungsakten. Die Portugiesen protestieren gegen weitere Massenentlassungen, die Spanier rotten sich zum Widerstand gegen Zwangsräumungen von Wohnungen zusammen und die Griechen erheben sich zornig gegen ihre Politiker. So groß ist die Verzweiflung, dass die Zahl der Selbstmorde dramatisch gestiegen ist.
Die wirtschaftliche und soziale Tristesse des Südens und in Teilen Osteuropas kennen die meisten Bürger nördlich der Alpen nur aus den Medien. Deutschland meldete gerade die höchste Beschäftigung und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1991. Österreich ist in einer ähnlich guten Lage. Dagegen sind in Griechenland und Spanien 26 Prozent der Werktätigen ohne Arbeit, bei den Jungen mehr als jeder Zweite.
Effektiver Arbeitsmarkt
Während deutsche Autobauer Rekordgewinne einfahren, kämpfen die französischen und italienischen Konkurrenten ums Überleben. Arbeitslose in Österreich haben eine gute Chance, nicht in Armut zu verfallen, wie es Arbeitslosen in Griechenland oder Zypern unweigerlich droht. Dazu tragen laut der EU-Studie der "effektive Arbeitsmarkt" und das "stabile Sozialsystem" bei uns bei. So gibt es in Österreich den geringsten Anteil an Langzeitarbeitslosen, in Deutschland ist der fast drei Mal so hoch.
Die von der EU-Kommission auf 469 Seiten gesammelten Fakten zur Beschäftigung und sozialen Entwicklung in der Union illustrieren die faktische Teilung Europas in diesen Bereichen in einen glücklichen Norden und einen verzweifelten Süden.
Einkommen schrumpfen
Der Bericht misst die menschlichen Schicksale in nüchternen Zahlen. In den Südländern der Eurozone ist die Arbeitslosigkeit seit 2007 von 7,3 auf zuletzt 14,5 Prozent gestiegen, im Norden von 7,9 auf sieben Prozent gesunken. Im Süden schrumpfen Wirtschaftsleistung und persönliche Einkommen stark, der Norden konnte eine Rezession und die Erosion der Einkommen bisher weitgehend vermeiden.
In den 17 Ländern der Eurozone ist der Riss noch viel markanter als unter allen 27 EU-Mitgliedern. Das ist für Österreichs obersten Gewerkschafter, ÖGB-Präsident Erich Foglar, der Beleg für das Scheitern der Politik des staatlichen "Kaputtsparens" zur Lösung der Schulden- und Eurokrise. Die jetzige Rekordarbeitslosigkeit sei "nicht der Boden, auf dem der Abbau von Staatsdefiziten und Schulden gedeiht". Auch Foglars Gegenpart in der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, bedrückt die Lage im Süden Europas: "Wir haben nichts davon, wenn es anderen nicht gut geht".
Wie Leitl mahnt auch der Grazer Nationalökonom Michael Steiner zu Augenmaß und Gelassenheit. Schon oft hätten sich Wirtschaftsräume sehr unterschiedlich entwickelt. Deutschland sei vor 15 Jahren der "kranke Mann Europas" gewesen, Italiens Industrie habe damals als dynamischstes aller Modelle gegolten. Der EU-Bericht hebt deshalb auch besonders die Reformen der Deutschen hervor, die Österreich in groben Zügen mitvollzogen hat.
Jetzt sei auf EU-Ebene die Solidargemeinschaft gefragt, wie sie in jedem Staat mit unterschiedlich erfolgreichen Regionen selbstverständlich ist, fordert Leitl. Gewerkschafter Foglar favorisiert die Idee eines "Marshallplanes" für den europäischen Süden. Diese US-Initiative hat nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Österreich wesentlich zum Wiederaufbau der zerstörten Volkswirtschaften beigetragen.