Eisige Luft weht über dem Wannsee. Der Himmel hat sich grau verschlossen. Es gibt im Jänner eigentlich keinen Grund, hier an den Stadtrand von Berlin zu fahren, wo die Reichen und Schönen der Hauptstadt im Grünen wohnen. Dennoch zieht die elegante Villa mit der ausladenden Seeterrasse an diesem ungemütlichen Morgen rund einhundert Menschen an - Historiker, Einzelbesucher und drei Schulklassen, die in den prachtvollen Räumen lebensnahen Geschichtsunterricht machen. Auch wenn der Begriff "lebensnah" eigentlich zu zynisch ist für einen der grausigsten Orte deutscher Geschichte. Denn in der Villa fand vor 70 Jahren die Wannsee-Konferenz zur "Endlösung der Judenfrage" statt.
Am 20. Januar 1942 versammelte sich rund ein Dutzend Staatssekretäre der damaligen deutschen Regierung im "Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD", um über diese Frage abschließend zu beraten. Sie wussten, worum es bei dem Treffen gehen sollte, denn in der Einladung zur Besprechung stand die mörderische Formel. Alle anwesenden Spitzenbeamten hatten bereits intensiv mit der Ausgrenzung, Entrechtung und Ausplünderung deutscher und ausländischer Juden zu tun gehabt: Sie kannten sich aus, deshalb waren sie ja eingeladen worden. Nun ging es um die letzte Steigerung des Antisemitismus: um physische Vernichtung.
Und beinahe hätte die Welt auch nie erfahren, was jene 15 Teilnehmer an jenem eisigen Morgen bei minus 13 Grad Außentemperatur besprochen haben. Denn nur eines der insgesamt 30 hergestellten Exemplare des Protokolls mit dem Stempel "Geheime Reichssache" überstand die Vernichtungsaktion im März und April 1945, als alle Ministerien und sonstigen wichtigen Institutionen des Dritten Reiches Beweise für ihre Verbrechen zu tilgen versuchten.
15 Blatt vergilbtes Papier
Es sind 15 vergilbte Blatt Papier, die heute unter eine Glasplatte in der Gedenkstätte liegen und in aller Kürze jene Unmenschlichkeit ausdrücken, die dem Nationalsozialismus innewohnte. Es war die bürokratische Weichenstellung auf dem Weg zum millionenfachen Mord an Europas Juden. Der von Adolf Eichmann verfasste Text sprach auch kaum verhüllt von "Endlösung der europäischen Judenfrage".
Die Vertreter der SS berichteten den anwesenden Staatssekretären von der bereits seit August 1941 durchgeführten Ermordung durch die Einsatzgruppen seit dem Einmarsch in der Sowjetunion sowie von den praktizierten Tötungsmethoden an den bis zum Jänner 1942 ermordeten 500.000 Juden. Dann präsentierte Reinhard Heydrich seinen Plan zur Vernichtung aller europäischen Juden. Die NS-Führung hatte den Chef des Reichssicherheitshauptamtes beauftragt, die "Endlösung" zu organisieren.
Bürokratischer Akt
Diese Frage war für die Nationalsozialisten aber schon zuvor beschlossene Sache. Bei der Konferenz ging es um die Koordination der verschiedenen beteiligten Behörden und die organisatorische Umsetzung des Vernichtungsprogramms. Der Plan beinhaltete die vorbereitenden Maßnahmen wie die Deportation "nach dem Osten", die Ghettoisierung und Zwangsarbeit, wie es dem Protokoll zu entnehmen ist. Unmittelbar nach der Konferenz setzten flächendeckende Deportationen in Deutschland ein und das Mordgeschehen wurde mit einem umfassenden Zwangsarbeitsprogramm verzahnt.
Die Tarnsprache gab dabei immer wieder Anlass zu Diskussionen. So wurden die Deportationen als "Umsiedlung" bezeichnet, die Ermordung als "Sonderbehandlung", die Vernichtung als "Endlösung". Heydrich hat den Text sorgfältig redigiert, damit ihn auch alle Ministerialbürokraten mittragen konnten. Eichmann berichtete 1961 in Jerusalem, dass auf der Konferenz selbst sehr offen über das Mordprogramm gesprochen worden sei. Mit der Wannsee-Konferenz machte die NS-Spitze aus dem Entschluss zur Judenvernichtung einen bürokratischen Prozess.
Zentral ist der Abschnitt III des Protokolls, in dem es heißt: "Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. (...) Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht." So steht es in der einzig erhaltenen Kopie. Es war die Nummer 16 und gehörte Martin Luther, dem Unterstaatssekretär des Außenamtes. Eine Mitarbeiterin des Anklägers Robert Kempner hatte sie 1947 im Auswärtigen Amt entdeckt, als Kempner den Wilhelmstraßen-Prozess vorbereitete, der 1948 als letzter der zwölf Nachfolgeprozesse des Hauptkriegsverbrecherprozesses von Nürnberg stattfand.
Das müssen auch die 20 Schüler lernen, die sich an diesem Morgen für ihren Unterricht um den Tisch mit dem Protokoll versammelt haben. Sie erleben, wie intensiv die Begegnung mit der Geschichte sein kann. Während der Stunde gibt es keine blöden Bemerkungen, es wird leise gesprochen. Seit der Eröffnung 1992 hat sich die Besucherzahl auf 105.000 fast verdoppelt, sagt Gedenkstättenleiter Norbert Kampe. Zwei Drittel der Besucher kommen aus dem Ausland, die meisten aus Israel. Das hat viel mit Eichmann zu tun. Er ist der einzige Teilnehmer der Konferenz, der sich direkt in Israel verantworten musste und dort 1962 nach einem weltweit beachteten Prozess hingerichtet wurde.