Seit bald neun Jahren sitzt Alexander Van der Bellen im Chefsessel in der Hofburg und musste in der Zeit drei Kanzler, fast 100 Minister sowie eine Beamtenregierung angeloben. Doch nun steht er vor der größten Herausforderung seiner politischen Karriere. Was tun, wenn ein Wahlsieger keine Partner für eine parlamentarische Mehrheit findet? Einfach schulterzuckend zur Kenntnis nehmen? Erzwingen kann ein Bundespräsident nichts, diese bittere Erfahrung musste Thomas Klesitil 2000 machen.

Gesprächsreigen geht am Montag weiter

Nach dem Treffen mit FPÖ Chef Herbert Kickl am Freitag setzt Van der Bellen nächste Woche seinen Gesprächsreigen mit den Parteichefs fort. Am Montag werden Karl Nehammer (ÖVP) und Andreas Babler (SPÖ) hinter die Tapetentüre gebeten, am Dienstag Beate Meinl-Reisinger (Neos) und Werner Kogler (Grüne). Wie es dann weitergeht, ist offen. Am Mittwoch könnte er sich wieder an die Öffentlichkeit wenden. In jedem Fall hat der große Poker um den Einzug ins Kanzleramt begonnen.

Absage an Schüssel-Haider 2.0

In einem Statement gestern vormittags rühmt Kickl das „atmosphärisch angenehme und offene Gespräch“ und wiederholt einmal mehr, dass die Freiheitlichen das Bundeskanzleramt nicht verhandelbar. Seit Monaten trommelt die FPÖ auf allen Ebene, dass man sich bei Platz eins nicht mit dem Vizekanzler - wie einst unter Wolfgang Schüssel und Jörg Haider - abspeisen lasse.  

Kein „Komplott des Systems“

Drei Optionen drängen sich auf, die dem Vernehmen nach in der Präsidentschaft auch diskutiert werden. Folgt man den Gepflogenheiten seit 1945, müsste FPÖ Chef Herbert Kickl den Regierungsbildungsauftrag erhalten, selbst wenn kein Partner in Sicht ist. Dies hätte den Vorteil, dass die Blauen nicht die Opfer-Karte zücken, nicht über ein „Komplott des Systems“, das ihnen den Einzug ins Kanzleramt verwehren will, klagen können. Diese Variante präferiert nicht nur ÖVP-Chef Nehammer, sondern vor allem die steirische ÖVP unter Christopher Drexler, der in sieben Wochen schwierige Wahlen zu schlagen hat, sowie Vorarlbergs Markus Wallner, der in einer Woche wählt. 

Futter für Donnerstagsdemos

Van der Bellen scheint wenig Freude mit der Variante zu haben, der Unmut seiner liberalen, urbanen, eher linken Anhängerschaft wäre ihm gewiss, selbst wenn Kickl nach ein paar Wochen mit leeren Händen in die Hofburg zurückkehren würde. Für die Donnerstag-Demos wäre eine Beauftragung ein willkommenes Futter.  Der Bundespräsident könnte diese Option mit dem Argument vom Tisch wischen, ein solcher Schritt sei nicht sinnvoll, da alle Parteichefs, auch der ÖVP-Chef, einem solchen Schulterschluss eine Absage erteilt haben. Das dürfte dann auch der kleinste gemeinsame Nenner der vier am Montag und Dienstag bevorstehenden Gespräche sein. 

Unmoderierte Sondierungen

Ein Kompromiss wäre, Kickl als Erstgereihten mit vagen Sondierungsgesprächen zu betrauen. Das wäre weniger formell. Als dritte Option steht im Raum, dass Van der Bellen den Ball wieder an die Parteichefs zurückspielt und sie auffordert,  gemeinsame inhaltliche Schnittmengen auszuloten. Ein wenig nach dem Vorbild des unmoderierten TV-Duells im Jahr 2016, bei dem Van der Bellen und Norbert Hofer, unter sich geblieben sind. 

ÖVP spielt auf Zeit

In jedem Fall spielt die ÖVP auf Zeit, vor den steirischen Wahlen soll überhaupt keine Vorentscheidung fallen. Verhandlungen über eine Dreierkoalition aus ÖVP, SPÖ und NEOS würden „sicherlich nicht“ vor Ende November starten, heißt es in allerhöchsten Parteikreisen. Dass Nehammer am Dienstag den SPÖ-Chef im Kanzleramt trifft, will man nicht zu hoch hängen, es sei ein Kennenlerntermin. 

Kickl will ÖVP Angebort unterbreiten

So leicht zurücklehnen wird sich die ÖVP in den nächsten Wochen nicht können, denn Kickl dürfte der Volkspartei in den nächsten Wochen zahllose inhaltliche Angebote im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- oder auch Migrationspolitik unterbreiten, die man nicht so leicht ausschlagen kann. „Beim Taktieren ist Kickl wahrscheinlich allen anderen überlegen“, sagt ein Insider, der nicht FPÖ gewählt hat.