Es ist schon halb zwölf, als er endlich ans Podium tritt: Joe Biden, der Noch-Präsident der USA. „Danke! Danke! Danke!“ ruft er mehrmals. Die Delegierten recken Banner mit seinem Namen und einem roten Herz hoch und rufen: „We love Joe“ und: „USA! USA!“, minutenlang. „Amerika, I love you“, ruft er zurück, und zuletzt: „Amerika! Amerika! Ich habe dir mein Bestes gegeben!“
Überraschungsauftritt von Kamala Harris
Bidens Auftritt war der Höhepunkt des ersten Abends beim Parteitag der Demokraten, der in Chicago stattfindet, im United Center, einer Sporthalle, die Zehntausende von Delegierten, Medienvertretern und Gästen fasst. Am Donnerstag wird sich die designierte Nachfolgerin Kamala Harris vorstellen, wobei Harris bereits einen kurzen Überraschungsauftritt hatte. „Wir kommen als ein Volk zusammen“, sagte sie, und: „Wenn wir kämpfen, werden wir siegen“, bevor sie unter Applaus die Bühne verließ.
Zorniger Biden will verbleibende Zeit nutzen
Biden klang in seiner Abschiedsrede erstaunlich zornig, vor allem auf den Gegenkandidaten Donald Trump. Er lächelte nie, womit er einen seltsamen Kontrast zu seinen Vorrednern bot, die Friede, Freude und Einigkeit verbreitet hatten. Biden warnte vor politischer Gewalt; er erinnerte an die Krawalle in Charlottesville, Virginia, von 2017. Damals hätten weiße Suprematisten, rechte Gewalttäter, Nazis und der Ku-Klux-Klan gewalttätig demonstriert, eine Frau sei umgekommen, und Trump, der Präsident, habe das gerechtfertigt. Deshalb habe er gegen Trump kandidiert. Noch habe er fünf Monate vor sich, die werde er nutzen. Zu den ungelösten Problemen gehörten die Kriege in der Ukraine und in Gaza.
„Die Wirtschaft brummt“
Seine Präsidentschaft, meinte Biden, sei rundum ein Erfolg gewesen; die Wirtschaft brumme, auch der Export, es gebe mehr Arbeitsplätze in der Industrie, die Pharmaindustrie sei geschlagen, die Mittelklasse, die Amerika baue, sei wohlhabend, die Inflation besiegt. Er sei stolz, der erste Präsident zu sein, der sich zu streikenden Arbeitern gesellt habe. Zwar zahlten Millionäre immer noch zu wenig Steuern. Aber Kamala und Tim würden dafür sorgen, dass sich das ändere. Auch außenpolitisch sei er erfolgreich gewesen: Während Amerika unter ihm die Welt erfolgreich führe, habe Trump das Land eine „versagende Nation“ genannt. Dabei sei Trump ein Versager.
In seiner fast einstündigen Rede streifte Biden die halbe Weltgeschichte: die Proteste in Chicago 1968, den Vietnamkrieg, die Effekte von Agent Orange auf US-Soldaten sowie gesundheitliche Schäden, die Soldaten, auch sein Sohn, im Irakkrieg erlitten hätten. Derweil habe Trump die Gräber von Weltkriegssoldaten in Frankreich zum D-Day nicht besucht. Trump sei nicht würdig, Präsident zu sein. Er habe überdies auch einen überparteilich ausgehandelten Kompromiss zur Grenzsicherung torpediert.
Viel Prominenz in den Parteitagsreihen
Viele prominente Demokraten saßen in den Logen, darunter Jesse Jackson, ein einflussreicher Afroamerikaner, der inzwischen sichtlich alt und krank ist, der Fraktionsvorsitzende im Senat, Chuck Schumer, der designierte Vizepräsident Tim Walz mit seiner Frau Gwen sowie Doug Emhoff, der Ehemann von Harris.
Heftige Palästina-Proteste
Mehrere Delegierte schafften es nicht rechtzeitig in das United Center. Denn vor dem mit Zäunen und Polizisten gesicherten Perimeter demonstrierten Tausende Menschen gegen Israels Krieg in Gaza. Biden sagte, die Demonstranten hätten durchaus Gründe, zu protestieren, ging aber nicht weiter darauf ein. Protestler versuchten auch innerhalb des Centers ein Transparent zu entrollen, wurden aber von Ordnern daran gehindert und rasch aus dem Saal geschafft.
In der Israelfrage blieben alle Demokraten verhalten. Linksaußen-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez sagte, sie arbeite daran, einen Waffenstillstand zu erreichen und die Geiseln nach Hause zu bringen. Harris meinte, es stürben zu viele Zivilisten. Allerdings spricht sie sich für weitere Waffenlieferungen an Israel aus. Ihre Sicherheitsberaterin Halie Soifer hatte zuvor gesagt, Harris und Biden hätten die exakt gleiche Israelpolitik. Harris kann die Proteste allerdings so gut gebrauchen wie ein Loch im Kopf, zumal sich potenzielle Wähler in den knappen Swing States wegen der Unterstützung von Israel der Stimme enthalten können.
Jill Biden ist immer noch verliebt
Vorgestellt wurde der Präsident von seiner Frau Jill und seiner Tochter Ashley in sehr emotionalen Reden. Sie seien seit 50 Jahren verheiratet, aber sie verliebe sich immer wieder neu in ihn, sagte Jill Biden. Sie erinnere sich noch daran, wie ihr Mann bei der Vereidigung die Hand auf die Familienbibel gelegt habe (ein Seitenhieb auf Trump, der Bibeln für seinen Wahlkampf verkauft). Eine den Tränen nahe Ashley betonte, wie sehr ihr Vater sie immer als Frau gefördert habe. Joe Biden war von den Worten seiner Tochter sichtlich gerührt. Auch sein eher etwas problematischer Sohn Hunter und mehrere Enkelkinder waren bei der Rede anwesend.
Zuvor hatte Hillary Clinton gesprochen, Präsidentengattin und Außenministerin unter Barack Obama. Eigentlich eine seltsame Wahl, um Biden vorzustellen. Clinton war Bidens Konkurrentin in zwei Wahlen gewesen. Sie dankte Biden für ein „Leben von Dienst und Führungskraft“, nun aber werde ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Clinton will Harris ins Weiße Haus bringen, als erste Präsidentin der USA. Ihre Mutter sei in Chicago geboren worden, bevor Frauen wählen durften, sagte sie. Sie seien damals für ihre Rechte eingetreten und hätten die Zukunft im Auge behalten. „Nun ist die Zukunft hier.“ Kamala habe Verbrecher eingesperrt, Trump sei bei seinem eigenen Prozess eingeschlafen, sagte Clinton. Und: Kamala werde keine Liebesbriefe an Diktatoren schreiben und sie werde „unser Militär respektieren“.
„Trump ist Schoßhündchen der Millionärsklasse“
Shawn Fain, Präsident der mächtigen Autobauergewerkschaft UAW, sagte, Trump und Vance seien Schoßhündchen der Millionärsklasse, Kamala sei „eine von uns“. Trump habe versprochen, Jobs in der Autoindustrie zurückzubringen und nichts getan, Biden sei bei den Streikposten gewesen. In die gleiche Kerbe schlug Ocasio-Cortez. Sie sei einst Kellnerin ohne Krankenversicherung gewesen, die Familie habe nach dem Krebstod des Vaters die Rechnungen nicht mehr bezahlen können. „Kamala hilft der Mittelklasse. Trump würde dieses Land für einen Dollar verkaufen.“
Es sprachen auch mehrere nicht so prominente Amerikanerinnen, darunter eine Frau, die mit zwölf Jahren von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde und fast an einer Abtreibung gestorben wäre. Und eine Schulfreundin von Kamala erzählte, wie sich die Kandidatin in der Schule mit einem Bully geprügelt habe, um eine Mitschülerin zu verteidigen. Sie habe im Krankenhaus genäht werden müssen. „So ist Kamala“.
Taylor Swift-Bilder der KI
Der „New Yorker“ bildete die Duos Harris/Walz und Trump/Vance auf einer Achterbahn ab, die nach oben beziehungsweise nach unten fahren. Harris führt mit drei Prozentpunkten vor Trump. Auch Hollywood-Prominente engagieren sich für sie, etwa die Schauspielerin Julia Louis-Dreyfus, die in der Serie „Veep“ die Vizepräsidentin spielt. Sie trat nach dem Parteitagsabend in der Late-Night-Sendung von Stephen Colbert auf und sagte, eine Präsidentin sei hoffentlich bald keine Fiktion mehr. Erwartet werden auch der Schauspieler George Clooney, die Sängerin Beyoncé und womöglich der Superstar Taylor Swift. Derweil wurde bekannt, dass Trump KI-generierte Bilder verteilen ließ, auf denen es wirkte, als würde Swift seine Wahl unterstützen. Die will dagegen gerichtlich vorgehen.
Trump ist noch immer verschnupft, dass er auf die dynamische Harris trifft und nicht auf den älteren Biden. Er beklagt, dass Biden „herausgezwungen“ worden sei. Womöglich bereut er es, dass er mit JD Vance antritt und nicht, wie er es zuvor erwogen hatte, mit einem afroamerikanischen Vize. Nach Mitternacht beschimpfte er alle Demokraten als Lügner und Linksradikale, die Millionen von Illegalen ins Land lassen würden.