Die Bombe detoniert um 12:42 Uhr. Die Explosion ist gewaltig. Flammen schießen empor, Menschen, Mobiliar und Gegenstände wirbeln durch den Raum. Glasscherben bohren sich in Körper. Vier Tote und 20 Verletzte, so wird die Bilanz des Anschlags lauten. Doch der Mann, dem er gegolten hat, kommt mit ein paar Prellungen, einer leichten Armverwundung und einem geplatzten Trommelfell davon. Bereits wenige Stunden später empfängt Adolf Hitler Italiens faschistischen Duce Benito Mussolini im Führerhauptquartier Wolfschanze und führt ihn zum Ort des Attentats.
Der Diktator glaubt, die „Vorsehung“ habe ihre schützende Hand über ihn gehalten. Binnen Stunden bricht der vom Attentäter, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, und hohen Wehrmachtsoffizieren vorbereitete militärische Umsturzversuch zusammen. Die Verschwörer, darunter viele Adelige, hofften, mit dem Tyrannenmord den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Noch vor Anbruch des nächsten Tages wurden sie hingerichtet und das NS-Regime nahm in der Folge an Tausenden Gegnern grausame Rache.
Das Attentat vom 20. Juli 1944 ist das berühmteste Beispiel des Widerstands gegen die Nazidiktatur. Das Andenken an Stauffenberg und seine Mitverschwörer, die im Nazireich und auch lange nach 1945 noch als Verräter galten, ist heute fester Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur und mit ihm die Frage, wie weit der Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime gehen darf, ja gehen muss. So rief der US-Senator Lindsey Graham unter Berufung auf Stauffenberg im März 2022 die Russen zur Ermordung von Kremlchef Wladimir Putin auf.
Der Tyrannenmord beschäftigte bereits den antiken Philosophen Aristoteles, berichtet die Grazer Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl. Doch während in der Antike der Tyrannenmord als tugendhaft bewertet wurde, habe das frühe Christentum den weltlichen Herrscher lange als von Gott an seinen Platz gesetzt angesehen. „Selbst ein brutales Willkürregime konnte als Strafe Gottes für die Sünden der Untertanen interpretiert werden“.
Erst die mittelalterliche Theologie erarbeitete unter Rückgriff auf Aristoteles moralische Kriterien für den Widerstand gegen einen Tyrannen. Nach Thomas von Aquin ist letztlich sogar seine Tötung erlaubt, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind und die Ermordung nicht zu größerem Leid führt. Heimerl: „Thomas unterscheidet zudem zwischen unrechtmäßig und rechtmäßig an die Macht gelangten Tyrannen. Während erstere bekämpft und sogar getötet werden sollen, braucht es für den Mord an zweiteren eine Legitimation durch eine andere öffentliche Autorität.“
Ein ethischer Grenzfall
Die Frage, ob ein Despot ermordet werden darf, bleibe jedenfalls bis in die Gegenwart herauf aktuell. Heutige Theologen, sagt Heimerl, würden immer darauf verweisen, dass die geänderten sozialen und politischen Verhältnisse berücksichtigt werden müssen. Zum „ethischen Grenzfall“ erklärt der Wiener Theologe Ulrich Körtner den Tyrannenmord: „Wer sich dazu entschließt, maßt sich an, im Namen einer höheren Gerechtigkeit das Recht zu brechen. Dabei gilt es stets auch die Folgen zu bedenken. Mit dem Tyrannen soll unter Umständen nicht nur ein Gewaltherrscher beseitigt werden, sondern auch das gesamte Regime und die geltende Ordnung des Staates. Das kann gerechtfertigt erscheinen, wenn die bisherige Ordnung die eines gewalttätigen Unrechtsstaates ist, der Menschenleben, Recht und Gerechtigkeit mit Füßen tritt. Die Folge kann aber auch eine Phase der gewaltsamen Revolution sein, die noch viele weitere Opfer fordert.“
Oft reklamiert, wer sich zum Tyrannenmord entschließt, freilich einen übergesetzlichen Notstand für sich. Körtner nennt hier den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der seine Beteiligung am 20. Juli 1944 folgendermaßen begründete: Wenn man auf dem Berliner Kurfürstendamm ein Auto sähe, dass willentlich und fortgesetzt Passanten überfahrt, genüge es nicht, die Verletzten zu versorgen, sondern man müsse dem Rad in die Speichen greifen. Dennoch bleibe die Tötung des Diktators Mord, mit dem man vor Gott und den Menschen Schuld auf sich lade. Körtner „Eine generelle Rechtfertigung des Tyrannenmordes kann es schon deshalb nicht geben, weil die Definition des Tyrannen im Einzelfall immer strittig sein wird. Wer dem Tyrannenmord leichtfertig das Wort spricht, bereitet den Weg, den Mord als Mittel der Politik zu legitimieren. Das wäre die Niederlage des Rechts.“
Der Frage, ob der Mord als versuchter Umsturz der staatlichen Ordnung gerechtfertigt scheint, kommt auch für den Grazer Philosophen Peter Strasser eine entscheidende Bedeutung zu. „Eine bejahende Antwort hängt davon ab, ob das bestehende Recht als unrichtiges Recht zu bewerten ist“, sagt er.
Was aber, wenn der Mord aus eigensüchtigen Machtmotiven erfolgt? Peter Strasser: „Dann fehlt die Rechtfertigung, insofern die alte durch eine neue Tyrannei ersetzt werden soll. Daraus geht hervor, dass der Tyrannenmord seine Rechtfertigung erst durch die am Gemeinwohl orientierte Uneigennützigkeit der Tat erhält.“
Der Philosoph verweist in diesem Zusammenhang auf den deutschen Juristen Gustav Radbruch (1878–1949), der das extrem ungerechte Recht der Nazis vor Augen folgende nach ihm benannte Formel prägte: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“