Die französischen Parlamentswahlen gehen mit einer großen Überraschung zu Ende. Anders als in der Vergangenheit hat die zweite Wahlrunde die Ergebnisse der ersten nicht bestätigt oder verstärkt, sondern die Reihenfolge auf dem Podium komplett verändert. Marine Le Pens Partei Rassemblement National erweist sich wider Erwarten als die große Verliererin. Das grünlinke Bündnis Neue Volksfront (NFP) ist überraschend mit bis zu 192 Sitzen laut den ersten Hochrechnungen die stärkste Kraft. Es hat damit eine relative Mehrheit im Pariser Palais Bourbon, das 577 Sitze zählt. 

Emmanuel Macrons Wahlbündnis der Mitte kommt mit 150 bis 170 Sitzen als zweite Kraft über die Ziellinie und wird zwischen 80 bis maximal hundert Sitze weniger als in der Nationalversammlung haben, die der Präsident am Abend der Europawahlen überraschend aufgelöst hat. Die Einbußen der Macronisten sind damit nicht so dramatisch wie erwartet. 

Der RN ist lediglich drittstärkste Kraft und kommt mit seinen Partnern auf 132 bis 152 Sitze. Für Marine Le Pen dürfte das Ergebnis eine herbe Enttäuschung sein. Zwar schien eine absolute Mehrheit in den letzten Tagen in unerreichbare Ferne zu rücken, dennoch gaben alle Umfragen den RN mit seinen konservativen Alliierten bis zum Schluss als stärkste Kraft.

Der Ausgang der Wahl zeigt, dass die Brandmauer, die durch Überläufer der konservativen Republikaner (LR) am Ende schien, erneut funktioniert hat. „Der RN ist eine Partei, die weiterhin Angst macht“, fasste Brice Teinturier vom Forschungsinstitut Ipsos die Lage zusammen. Nach dem ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag schien die absolute Mehrheit für den RN in greifbarer Nähe. Das hat sich radikal geändert, nachdem sich 210 Kandidaten zurückgezogen haben. Damit wurden die Karten vollkommen neu durchgemischt. Durch taktische Wahlabsprachen zwischen dem Wahlbündnis von Macron und der Neuen Volksfront blieben von den ursprünglich 306 Dreieckswahlen nur 89 übrig. Das hat die Chancen des RN stark gemindert. Bei einer Dreierkonstellation hätte eine relative Mehrheit für den RN-Kandidaten genügt. 

Schwierige Regierungsbildung in Frankreich

Die Franzosen haben damit klar gezeigt, dass sie mehrheitlich keine Regierung des rechtsnationalen RN wollen. Aus Sicht der Demokraten ist das Schlimmste verhindert worden. In den Augen der Rechtspopulisten sind sie durch taktische Absprachen um ihren Sieg betrogen worden. RN-Parteichef Jordan Bardella sprach am Wahlabend von einer „unehrbaren Allianz“ zwischen Macronisten und Linkspopulisten. 

Seine Partei hatte seit den Europawahlen von einer klaren Dynamik profitiert, die abrupt endete, als Le Pen die Rolle des Präsidenten für Belange der Außenpolitik und der Verteidigung infrage stellte. Auch die Ansage des RN, dass Franzosen mit doppelter Staatsbürgerschaft keinen Job in sensiblen Bereichen haben dürften, kam nicht gut an. Offensichtlich blieb auch nicht folgenlos, dass sich zahlreiche RN-Kandidaten durch rassistische und antisemitische Äußerungen hervorgetan haben, andere durch erschütternde Unkenntnis. Von einer Kandidatin tauchte ein Foto mit Fliegermütze der deutschen Luftwaffe auf. Parteipräsident Bardella versuchte zu relativieren und sprach von „schwarzen Schafen“. Justizminister Eric Dupont-Moretti konterte: „Wie viele schwarze Schafe machen eine Herde?“ 

Attal sagte nach Veröffentlichung erster Prognosen am Wahlabend, dass er am Montag seinen Rücktritt bei Präsident Emmanuel Macron einreichen werde. Vorerst willl Macron jedoch an seinem Ministerpräsidenten festhalten. Der Präsident hat Gabriel Attal gebeten, vorerst Ministerpräsident zu bleiben, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten“, teilte Macrons Büro am Montag mit. Attal hatte seinen Rücktritt angeboten, aber auch seine Bereitschaft erklärt, notfalls übergangsweise kommissarisch im Amt zu bleiben.

Nichtsdestotrotz handelt es sich für die nationalidentitäre Partei um ein historisches Wahlergebnis. 2012 hatte die Partei nur zwei Abgeordnete. 2017 waren es acht. Bereits vor zwei Jahren gelang ein Sprung auf 89. Dieses Mal ist es dem RN gelungen, innerhalb von nur zwei Jahren diese Zahl fast zu verdoppeln. 

Keine absolute Mehrheit

„Vor der ersten Wahlrunde war der Wunsch nach Veränderung übermächtig. Nach der zweiten erweist sich die Angst vor Veränderung als stärker“, analysiert Bernard Sananès, Chef des Umfrageinstituts Elabe. Wie schon zuvor die Europawahl wurde die erste Wahlrunde von den Wählern als Referendum gegen Macron benutzt. Bei der zweiten habe offensichtlich die Vernunft gesiegt.

Von einer innenpolitischen Klärung, die sich Macron erhofft hatte, kann jedoch keine Rede sein. Keiner der Blöcke hat eine absolute Mehrheit errungen. Es obliegt Präsident Macron, einen Regierungschef zu benennen. Nach allen Regeln müsste er aus einer Partei des Linksbündnisses entstammen. Jean-Luc Mélenchons Linkspartei LFI hat nur wenige Plätze mehr als die Sozialisten, womit sich auch dort das Kräfteverhältnis verändert. Es scheint somit ausgeschlossen, dass Mélenchon Regierungschef wird. Es werde eine Regierung „ohne Robespierre und ohne Jupiter geben“, versprach Raphaël Glucksmann, gemeint war: ohne Mélenchon und ohne Macron. Sollte es nicht gelingen, eine weitumspannende Koalition zu bilden, könnte Frankreich ein ganzes Jahr blockiert sein. Erst dann sind wieder Neuwahlen möglich.

Angst vor Ausschreitungen

Aus Angst vor Ausschreitungen wurden am Sonntag in allen großen Innenstädten des Landes Vorkehrungen getroffen. Viele Geschäftsbesitzer verbarrikadierten ihre Länden, die Sicherheitskräfte stellten große Polizeiformationen ab.