MICHAEL FLEISCHHACKER: Auf die Frage, was sich ändern muss jetzt, morgen, kommende Woche oder 2024, lautet meine Antwort seit geraumer Zeit: alles. Sie werden mich vermutlich nicht des Kryprorevolutionarismus verdächtigen, lieber Thurnher, aber tatsächlich bin ich der Ansicht, dass die Welt und wir mit ihr an einem Punkt angelangt sind, an dem es linear nicht weitergeht. Es ist nämlich so: Wir sind mit unserem Latein am Ende.
ARMIN THURNHER: Wenn Sie es sagen, möchte ich erwähnen, dass ich mir vorgenommen habe, mein Latein und mein Griechisch aufzufrischen, um ein paar Dichter besser im Original lesen zu können. Das mag Ihnen vielleicht biedermeierlich erscheinen, aber ich denke, es ist nie zu spät, mit seinem Latein anzufangen. Ich habe Sie übrigens nie der Heimlichtuerei verdächtigt, lieber Fleischhacker, Sie machen ja aus Ihrem Herzen selten ein Friedenslager, wie man so sagt. Auch ich würde gern vieles, wenn nicht alles ändern, aber unser beider geänderte Welten sähen einander vermutlich nicht recht ähnlich.
FLEISCHHACKER: Es erscheint mir nicht nur biedermeierlich, es ist selbstverständlich biedermeierlich, aber ich habe gegen das Biedermeierliche nichts einzuwenden, denn wenn die Welt mit ihrem Latein am Ende ist, muss man an seinem eigenen Griechisch arbeiten, was soll man denn sonst tun. Ob die Welt, wenn Sie sie nach Ihren Vorstellungen geändert haben, gerade so aussieht, wie sie aussähe, wenn meine Änderungen zum Tragen kämen, weiß ich nicht, ich glaube eigentlich eher nein. Aber machen wir die Probe aufs Exempel: Womit würden Sie denn beginnen?
THURNHER: Ich würde tatsächlich mit dem Bildungssystem beginnen. Von unten: Kochen in den Volksschulen (vielleicht auch Latein), dann Gesamtschule nach humanistisch-aufklärerischen Ideen, inklusiv, aber streng, mit Sanskrit, Kunst, Musik, Literatur und weiterhin Kochen für alle; Künstler und Schriftstellerinnen ins Personal, vielleicht sogar einzelne Journalisten, und selbstverständlich Verbot für digitale Geräte. Ordentlich Sport. Zuletzt die Universitäten entschulen, vom Praxiszulieferzwang entlasten und von den unglaublichsten Uniräten befreien (ich weiß ja nicht, ob Eva Dichand noch amtiert, aber die Tatsache, dass sie sich durch den Besitz eines medizinischen Online-Ratgeberdienstes dafür qualifizierte, sagt alles).
FLEISCHHACKER: So etwas in der Art habe ich befürchtet. Mit Kochen, Kunst und Sanskrit rennen Sie bei mir natürlich offene Türen ein, aber ich weiß nicht, ob die jungen Menschen außerhalb unserer privilegierten Kreise mit diesem Programm gut auf die Welt vorbereitet sind, die sie erwartet. Zum Beispiel, was die digitalen Geräte betrifft: Ist es wirklich gut, sie in der Schule zu verbieten, oder wäre es nicht besser, sie mit ihnen gemeinsam sinnvoll zu benützen? Und auf die Journalisten würde ich zugunsten kluger und gebildeter Soldaten verzichten, die ihnen vom Krieg erzählen, der sie erwartet. Was die Universitäten betrifft, so bin ich vollends ratlos, weil ich immer noch nicht mit der Tatsache zurechtkomme, dass es immer mehr von ihnen gibt, je weniger sie es sind.
THURNHER: Wenn die Soldaten so sind wie unsere Bundesheer-Experten, würde ich zahlreiche Bildungs- und Medienleute gern durch sie ersetzen. Einen sinnvollen Umgang mit digitalen Geräten findet jeder für sich selbst heraus, aber die Dinger sind von Hardware bis Software bekanntlich suchtbildend konzipiert. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Kindern den Umgang mit Crystal Meth in der Schule empfehlen, damit sie sinnvoll mit dem Zeug umgehen lernen. Ich denke, dass auch das digitale Wisch-und-Weg-Verhalten die massenhafte Einübung in neue Waffengenerationen darstellt, Telematik eben. Den Krieg verhindern – wenn wir das wollen – können wir nur mit geistig resistenten Generationen von demokratisch gebildeten Menschen. Ich hätte da naturgemäß auch Ideen, die Ihnen noch viel weniger gefallen. Die Medien betreffend zum Beispiel.
FLEISCHHACKER: Wie viel näher wir einer besseren Welt kommen, wenn wir uns und unseren Kindern einreden, dass Smartphones wie Crystal Meth sind, weiß ich nicht, glaube aber: nicht sehr viel näher. Da erschiene es mir schon sinnvoller, ihnen klarzumachen, dass man Krieg niemals verhindern kann, auch nicht durch demokratisch gebildete Menschen. Aber ich bin sehr an Ihren weiterführenden, die Medien betreffenden Ideen interessiert, vor allem weil sie mir nicht gefallen werden.
THURNHER: Das mit dem Krieg lasse ich nicht stehen. Krieg mag eine anthropologische Konstante sein, aber man kann Menschsein auch – frei nach Viktor Frankl – so definieren: Man lässt sich von sich selbst nicht jede anthropologische Konstante gefallen. Bei den Medien würde ich langweiligerweise den öffentlich-rechtlich Rundfunk entparteipolitisieren, die Medienförderung um den Schweigegeldfaktor reduzieren (also stark) und ein dramatisches Programm zur Rettung von Öffentlichkeit initiieren. Dazu müssten im globalen Maßstab die Techgiganten aus dem Reich der Selbstgesetzgebung geholt werden, also auch das: reine Utopie.
FLEISCHHACKER: Je weniger Menschen sich von sich selbst nicht jede anthropologische Konstante gefallen lassen, umso besser – der Krieg ist ja nicht die einzige –, aber das wird nicht dazu führen, dass es keinen Krieg mehr gibt, nur dazu, dass mehr Menschen an der Tatsache seiner Unausweichlichkeit leiden. Was die Medien betrifft, bin ich mit meinem Latein schon lange am Ende, denn ich fürchte, dass sich das Gespräch der anwesenden Guten über die abwesenden Bösen nicht wieder zu dem zurückentwickeln wird, was man früher einmal Diskurs nannte. Daran wird ein entparteipolitisierter ORF genauso wenig ändern wie ein Ende der Anzeigenkorruption, denn das Problem kommt nicht von außen, es hat sich innen breitgemacht und festgesetzt.
THURNHER: Dann hätte ich mit meiner Idee, mit der Bildung anzufangen, nicht ganz unrecht? Ihren Pessimismus in Ehren, aber darauf muss ich doch Walter Benjamin zitieren: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben!“
FLEISCHHACKER: Darauf immerhin können wir uns einigen: Hoffnung ist das, was bleibt, wenn nichts mehr geht. Und ich finde, mit Ihrer Hoffnung auf die antiken Dichter im Original liegen Sie keinesfalls falsch. Alles Gute für 2024!
THURNHER: Ihnen auch. Ich denke, es ist in Ordnung, dass wir der Welt einiges, ja fast alles übrig gelassen haben, was sie zu ändern hat. Denn da haben wieder Sie recht, so wie sie ist, kann sie nicht bleiben.