Als Benjamin Netanjahu in der Nacht auf Sonntag vor ein paar Journalisten auftrat, war das Bemühen, das heikle Thema zu umschiffen, offensichtlich. Wenige Stunden davor hatten israelische Soldaten drei Geiseln der Hamas trotz einer weißen Flagge erschossen, doch der Premierminister sprach lieber über seine bisherige Rolle bei der Verhinderung eines palästinensischen Staates. „Jeder versteht nun, was passiert wäre, wenn wir dem internationalen Druck nachgegeben hätten und etwas wie in Gaza auch im Westjordanland zugelassen hätten“, sagte der 74-jährige Likud-Chef, der sich seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober noch einmal stärker um alle jene bemüht, die eine Zweistaatenlösung für ein gefährliches Hirngespinst halten.

Die versehentliche Tötung der drei Israelis durch die eigene Armee lässt sich allerdings nicht so einfach beiseite wischen. Seit dem Zwischenfall am Freitag wächst der Druck auf Netanjahu, der im Gegensatz zur Armeeführung bisher kaum bedauernde Worte gefunden hat. „Ich habe die Regierung angefleht und davor gewarnt, dass die Kämpfe den Geiseln schaden würden“, erklärte die im Rahmen der letzten Feuerpause freigelassene Geisel Raz Ben-Ami bei einer Demonstration in Tel Aviv. „Unglücklicherweise hatte ich recht.“

Geisel rief auf Hebräisch um Hilfe

Die täglich neu ans Licht kommenden Details des Zwischenfalls lassen bei vielen Israelis zudem Zweifel aufkommen, inwieweit sich das Militär bei seinem Einsatz im Gazastreifen an die eigenen Verhaltensregeln oder an das Völkerrecht hält. So waren der Armee zufolge an den Wänden eines Gebäudes, in dessen Nähe die Geiseln erschossen wurden, Schilder mit Hilferufen befestigt gewesen – etwa ein „SOS“ in hebräischer Sprache. Ersten Untersuchungen zufolge hatten die drei Geiseln Lebensmittelreste verwendet, um die weißen Stoffbahnen zu beschreiben.

Laut einem Armeesprecher hatte ein Soldat die drei Männer in mehreren zehn Metern Entfernung auftauchen sehen. Sie hätten alle keine Hemden angehabt. Der Soldat habe sich aber bedroht gefühlt und geschossen. Er habe angegeben, es seien Terroristen, und dann sei das Feuer von mehreren anderen Soldaten auf die Geiseln eröffnet worden. Zwei seien sofort tot gewesen. Die dritte Geisel habe verwundet Schutz in einem Gebäude gesucht und auf Hebräisch um Hilfe gerufen. Zwar habe der Kommandant sofort das Einstellen des Feuers befohlen, aber es sei weiter auf die Geisel geschossen worden, die dann gestorben sei. „Das war gegen unsere Einsatzregeln“, sagte der Militärsprecher.

Generalmajor Herzi Halevi hatte bereits am Sonntag erklärt, die Schüsse auf die Menschen seien falsch gewesen. „Was ist, wenn zwei Menschen aus Gaza mit einer weißen Flagge herauskommen, um sich zu ergeben, schießen wir dann auf sie? Auf keinen Fall“, so der Chef des Generalstabs. „Selbst diejenigen, die uns bekämpfen, nehmen wir fest, wenn sie ihre Waffen niederlegen und die Hände heben – wir erschießen sie nicht.“

Die Hamas hatte bei ihrem Angriff auf Israel rund 1200 Menschen getötet, mehr als 240 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Mehr als 100 von ihnen befinden sich nach wie vor dort und werden trotz israelischer Forderungen nach Zugang des Roten Kreuzes in Isolationshaft gehalten. Ende November waren im Zuge einer Vereinbarung mehr als 100 Frauen, Kinder und Jugendliche von der Hamas freigelassen worden.

Im Gegenzug hatte Israel Gefangene der Hamas aus Haftanstalten freigelassen. Andere Geiseln wurden von den israelischen Behörden für tot erklärt. Bei den Gegenangriffen Israels im Gazastreifen, mit denen den Angaben zufolge die Hamas vernichtet werden soll, wurden bisher nach palästinensischen Angaben rund 19.000 Menschen getötet.