Wir erinnern heute, am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945, an den millionenfachen Mord an den Juden Europas. Bedarf es heute wirklich noch eines Holocaust-Gedenktages?
BARBARA STELZL-MARX: Der Holocaust liegt mehr als 75 Jahre zurück, wir leben in einer Situation, in der es zunehmend weniger Zeitzeugen gibt, die aus eigenem Erleben berichten können. Umso wichtiger ist es daher auch, dass Zeichen gesetzt werden, dass es Rituale gibt, wie Gedenktage. Der Blick zurück in die Geschichte erlaubt uns auch mit der Gegenwart besser umzugehen, sie besser zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Es gibt heute noch so viele Spuren des Nationalsozialismus, des Holocaust, oft vor unserer Haustüre, sie sind subkutan vorhanden, sind eingebrannt in Biografien und in die Landschaften.
Die Erinnerungskultur in Österreich an die Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus weist keine lange Tradition auf, ist eher jüngeren Datums ...
Bei uns gab es jahrzehntelang ein Betonen, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, die Opferthese wurde zur Tradition. Bis zur Diskussion um die Vergangenheit des damaligen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim im Jahr 1986 wurden viele dunkle Themen, vor allem in Bezug auf die Tätergeschichte, verschwiegen.
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Ein Schweigen, um nicht das eigene Tun in dieser Zeit hinterfragen zu müssen?
Nationalsozialismus und Holocaust sind in Deutschland wie auch in Österreich gleichsam eine Familiengeschichte. In vielen Familien gibt es beide Seiten, sowohl Opfer als auch Täter. In vielen Familien schwieg man einfach darüber. Durch Schweigen wurde es nicht besser, im Gegenteil, je bewusster und offensiver man sich auch in den nächsten Generationen damit auseinandersetzt, je mehr man davon weiß, was in der eigenen Familie passiert ist, desto besser gelingt der Umgang mit der in die Gegenwart reichenden Vergangenheit.
Wenn die letzten Erlebniszeugen gestorben sind, besteht nicht die Gefahr, dass leichter relativiert und angezweifelt wird, weil niemand mehr aufstehen und sagen kann, ich habe das erlebt?
Die Zeitzeugen sind durch nichts zu ersetzen. Deswegen ist es wichtig, jetzt mit den noch lebenden Zeitzeugen Interviews zu führen und die vorhandenen Augenzeugenberichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und da kommt ebenfalls der Forschung eine große Rolle zu, Themen, die noch nicht aufgearbeitet worden sind, anzusprechen und basierend verlässlichen Quellen aufzubereiten. Nicht zuletzt bedarf es dann einer guten Vermittlung. Wenn man den Blick zurück in die Geschichte wirft, soll das gleichzeitig dazu beitragen, eine möglichst tolerante Gesellschaft zu bilden.
Was sagt dann die Historikerin, wenn Gegner von Corona-Maßnahmen sich des Holocausts bemächtigen mit Slogans wie „Impfen macht frei“ oder „Wir sind die neuen Juden“?
Derartige Vergleiche mit der nationalsozialistischen Vergangenheit oder die Gleichsetzungen mit Personen und Ereignissen aus dem Holocaust erfolgen inflationär. Das führt zu einer Verharmlosung der unvergleichlichen Ereignisse, zeigt eigentlich auch eine Radikalisierung der Sprache in der derzeitigen Situation. Jene, die diese Vergleiche einsetzen, wissen, dass sie damit maximale Aufmerksamkeit erhalten. Deshalb hat auch Arnold Schwarzenegger den Sturm auf das Kapitol mit der Reichspogromnacht des Jahres 1938 verglichen. Je breiter diese Vergleiche verwendet werden, desto normaler erscheinen sie und führen zu einer Relativierung des Holocausts.
Was sagen Sie jenen, die meinen, es sollte endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden?
Man kann keinen Schlussstrich ziehen, wenn es keinen Schluss gibt. Die Folgen des Nationalsozialismus sind weiter spürbar und brechen immer wieder auf. Wir sollten uns vor Augen führen, dass Dinge wie Mauthausen, der Inbegriff der Vernichtung in der damaligen Ostmark, eine lange Vorgeschichte hatten – das Einteilen der Bevölkerung in gut und böse, die Feindbilder, die überhöhten Selbstbilder. Das alles trug dazu bei. Daher ist es wichtig, darauf zu achten, wo wir als Gesellschaft heute nicht wegschauen und schweigen dürfen. Das Gedenken schärft die Sinne dafür.